Montag, 10. Oktober 2011

Ist die elektronische Technologie zu komfortabel?

"Was immer wir mit unserem Gehirn tun, hinterlässt in ihm Spuren, und so geht auch die Benutzung elektronischer Medien nicht spurlos an uns vorbei", schreibt Manfred Spitzer in seinem neuesten Text Auslagern ins Wolkengedächtnis? Auswirkungen des Gebrauchs elektronischer Medien auf unser Gehirn (Nervenheilkunde 10/2011, S. 749 - 754). Der Satz dreht sich im Kreis. Doppel genäht hält besser, könnte man sagen. James Hadley Chase, der britische Autor robuster Kriminalromane, wusste das schon: There is always a price tag, lautet einer seiner Titel. Die Kölner sagen das in verneinter Form: Von Nix kütt Nix.


Spuren, schreibt also Manfred Spitzer, hinterlasse der tägliche Umgang mit der elektronischen Technik. Nun ist die Spur eine mehrdeutige Metapher des Sehens oder des Wahrnehmen-Könnens. Die ursprüngliche Bedeutung im Mittelhochdeutschen, sagt der Kluge, war der Fußabdruck; das Verbum spüren leitet sich davon ab; im Hochalemannischen bedeutet die Spur die "vom Tauwasser verursachte Rinne im Boden" (S. 734). Für uns schließlich verflüchtigt sich heute die Spur auch in Spurenelemente oder in den Hauch eines Verdachts. Manfred Spitzers Rede von der Spur beteuert die Einfachheit des methodischen Problems, Wirkungen zu erfassen. Denn wie kann man die Spuren im Gehirn, diesem Milliarden-fach vernetzten System, nachweisen?

Gar nicht. Man kann in Experimenten Aufgaben stellen - beispielsweise Leute auf der Tastatur  mobiler Telefone Wörter schreiben lassen und die Zahlenkombinationen dieser Wörter nach verschiedenen Hinsichten abfragen (auf der Tastatur ist ja immer eine Gruppe von drei Buchstaben mit einer Zahl verknüpft) mit der Hypothese, dass sich bestimmte unbemerkte Verknüpfungsmuster von Buchstaben und Zahlen in den Antworten finden lassen - und die Leistungen korrelieren. Statistische Korrelationsverfahren rechnen Regelmäßigkeiten heraus und prüfen die Wahrscheinlichkeit, inwieweit sie zufällig zustande gekommen sind.

Mit dem Nachweis von Spuren im Gehirn hat das nichts zu tun. Spuren im Gehirn kann man nicht ausmachen. Aus den Leistungen eines Menschen kann man hypothetische Muster kognitiver Leistungen erschließen - mehr nicht. Die Rede von den Spuren im Gehirn ist imperialistische Wissenschaftspolitik. Das Gehirn soll das psychische System - oder wie Sigmund Freud es nannte: das seelische Geschehen - ersetzen.  Aber das Gehirn ist methodisch nicht zugänglicher als die Psyche. Der Autor verspricht mehr, als er einlösen kann. Was kann er vorlegen?

Das Bearbeiten der Tastaturen mobiler Telefone übt Verknüpfungen ein und trainiert Fertigkeiten. Dieser Befund ist keine Überraschung. Was sie für uns bedeuten, muss man sehen. Der Umgang mit dem in das Internet ausgelagerten kulturellen Wissen fördert nicht die mnestische Leistungsfähigkeit. Das ist auch ein alter Hut: Was ich nicht gründlich lerne, behalte ich nicht gut; es versickert. Was ich mir sagen lasse von einem fremden Stichwort-Geber, habe ich möglicherweise bald nicht mehr parat. Aber was ist gründliches Lernen? Es ist affektiv beteiligtes , bedeutungsvolles, lebensgeschichtlich relevantes Lernen - das ständige Durchgehen und Synthetisieren des Aufgenommenen im inneren Dialog; dessen allmähliche Integration ins seelische System. Findet das jetzt nicht mehr statt? Und was ist schlecht am Vergessen? Manfred Spitzer zitiert Untersuchungen, die belegen, dass Studenten sich merken, wo sie etwas finden können, aber nicht, was. Abgesehen davon, dass man punktuelle Resultate aus punktuell angelegten Experimenten schlecht extrapolieren kann als die möglichen Kulturleistungen junger Leute, reicht es für die alltäglichen und mittelfristigen Aufgaben, wenn man weiß, wo und wie man gute Informationen und gute Literatur findet. Für die langfristigen Aufgaben des Forschens sieht das anders aus. Wer vergisst, bleibt locker und beschwert nicht sich mit irgendeinem Bildungskrempel. Man kann darauf vertrauen, dass man das für einen Wichtige parat hat.

Und macht das Navigationssystem im Auto passiv, wie Manfred Spitzer befürchtet? Sicher, es etabliert eine neue Abhängigkeit beim Autofahren. Aber vor allem verlassen wir uns doch auf die Funktionstüchtigkeit unseres Fahrzeugs. Wenn wir dem Navigationssystem nicht trauen, dürfen wir auch der komplizierten Elektronik unserer Autos nicht trauen. Nein, im Gegenteil: das System der Ortskundigkeit  entlastet; es ist ein Segen in fremden Städten. Für die älteren Herren am Steuer  - Manfred Spitzer ist Jahrgang 1958 - ist es vielleicht unsportlich, aber warum muss man sich anstrengen, wenn man sich nicht anstrengen muss? Natürlich muss man der Dame des Abbiegens gegenüber kritisch bleiben, wohin sie einen zu führen beabsichtigt. Aber das sollte man ja immer - vor allem in Geschäftsbeziehungen. Manfred Spitzer nennt das unsere mentale Bequemlichkeit (S. 753). Was ist, fragt er, wenn der Strom ausfällt? "Wenn mir jedoch das Wissen abgedreht wird", schreibt er, "was dann? Welche Bücher muss ich dann parat haben? Und wenn alles in die Wolke ausgelagert ist und die verflüchtigt sich?"

Ja, was dann? Dann machen wir Pause und besinnen uns im Kreis unserer Lieben auf das, was wir haben und können.            

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