Montag, 27. Juni 2016

Ist der Brexit eine Befreiung, eine Katastrophe oder eine Schnapsidee?

Im Augenblick ist er eine durch das Referendum bestätigte Schnapsidee vom Trick des Machterhalts. Schnapsidee ist natürlich die Vokabel meiner Einschätzung dieses Manövers, die Möglichkeit des Austritts aus der Europäischen Union in Aussicht zu stellen. Bislang ist die britische Regierung dem Votum des Referendums nicht gefolgt und hat die Absicht des Austritts nicht formell beantragt. David Cameron hat Recht, wenn er sagt: dass die britische Regierung souverän sei, den Zeitpunkt des Austritts zu bestimmen. Er könnte - ich weiß: familiäre Analogien sollten zur Beschreibung/Erörterung politischer Prozesse nicht verwandt werden - , was Eheleute tun, die ihre Scheidungsabsicht im Hinblick auf die Kosten (Entfremdung von den Kindern, Vereinsamung, Aufgabe von Vertrautheiten, Verarmung) diskutieren und dann vertagen oder aufgeben, seinen fellow citizens die Kosten des Austritts erläutern und dessen Unmöglichkeit erklären. Er muss nicht den Austritt beantragen - er hat ihn versprochen. Mit der Erklärung der Schnapsidee  hätte er allerdings sein Versprechen gebrochen und seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Er müsste dann sein politisches Überleben seiner Wählerschaft überlassen. Aber wann hat ein Politiker oder eine Politikerin je eine Schnapsidee eingestanden?

Bleiben die Gremien und Organe der Europäischen Union und die nationalen Regierungen. Seltsamerweise drängen sie - als wäre eine Absicht schon eine vertraglich zugesicherte Handlung. Sie fordern den Antrag des Austritts. Sie haben es eilig. Weshalb? Die Antwort gab heute morgen die Frankfurter Zeitung der klugen Köpfe mit dieser Schlagzeile aus dem Wirtschaftsteil: "Brexit-Furcht an den Finanzmärkten wächst" (F.A.Z. vom 28.6.2016, S. 19, Nr. 148). Die Finanzmärkte! So einfach sind manchmal die (vorläufigen) Antworten. Francois Hollande sagte gestern (sinngemäß): Ungewissheit wäre schlecht für die Märkte. Habt Mitleid und Sympathien mit den Leuten, die die Gelder fließen lassen! Deshalb soll David Cameron sich beeilen. Politiker lieben das existenziell aufgeblasene, aufgedröhnte Theater. Es lenkt so herrlich ab und hält die nationalen Wählerschaften bei Fuß. Darauf sollte man nicht hereinfallen. Eine Schnapsidee bleibt eine Schnapsidee. Manche Politiker sind sich nicht zu schade, die Realisierung einer Schnapsidee einzufordern. Wir kennen das. Allerdings sollten die Botschaften des britischen Referendums (sie müssen noch herausgefunden werden) und ihre Adressierung sehr ernst genommen werden. Ungewissheit und Unsicherheit sind übrigens produktive existenzielle Zustände: sie erfordern gründliches Nachdenken.

(Überarbeitung: 29.6.2016)

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