Mittwoch, 29. Juni 2016

"Welcome! Welcome back!" und "keine Rosinenpickerei!"

Zwei Aussagen von zwei Politikerinnen beim gestrigen Brüsseler Treffen der Regierungschefs.

Die erste machte Dalia Grybauskaite, die litauische Präsidentin, auf die Frage, was wäre, würde Großbritannien seinen Austritt nicht beantragen: "Welcome! Welcome back!", sagte sie. Sie lud ein.

Die zweite Aussage machte Angela Merkel gestern in Brüssel. Zuerst sagte sie: vor dem Antrag der Briten zum Austritt gebe es weder formelle noch informelle Verhandlungen. Das war klug und griff nicht vor: solange der Austritt nicht beantragt ist, ist er für die Europäische Union noch keine relevante Realität. So weit, so gut. Dann folgte - offenbar an einem anderen Ort der Kameras und Mikrofone:  es solle "keine Rosinenpickerei für Großbritannien" geben. Angela Merkel drohte.

Wie passt ihre Drohung zur Erklärung des Abwartens auf den Antrag des Austritts? Gar nicht. Die Drohung widerspricht der Erklärung des Abwartens. Wer hat sie übrigens beauftragt, sich einzumischen in die Innenpolitik der Briten, bevor sie Außenpolitik wird?

Einen Tag zuvor berichtete die F.A.Z. auf ihrer ersten Seite (28.6.2016), dass die Kanzlerin der britischen Regierung Zeit einräumen wolle, aber eine "Hängepartie", sagte sie, dürfe es auch nicht geben; sie warte auf die baldige Bekanntgabe des Zeitpunkts der Antragstellung. Wir kennen dieses Wechselspiel von Freundlichkeit und Unfreundlichkeit -  es ist deutscher (terroristischer) Sozialisationston mit dem bekannten Subtext: Solange du dich fügst, ist es gut.

Jetzt kommen wir zu der Vokabel von den Rosinen. Für unsere (alten) Ohren sind die Rosinen starker Tobak. Sie transportieren den Vorwurf des Egoismus und des Vordrängens; wer die Rosinen sich herauspickt, benimmt sich schlecht und ist ein schlechter Kerl. Die Rückseite des Vorwurfs ist die Klage des Sprechers oder der Sprecherin, zu kurz zu kommen - jemand ist schneller. Den Vorwurf bewegt ein Neid auf den Schnelleren. Wir sind wieder in der deutschen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Weiß die Kanzlerin, was sie sagt? In welchem alten deutschen - nicht bundesdeutschen -  Kontext sie sich bewegt und wie sie die gegenwärtigen politischen Kontexte vernebelt und verzerrt und vermengt mit Vokabeln aus der alten Kinderstube? Ist das ihre Sprache oder die Sprache der Berater? Es kann doch nur darum gehen, den politischen Schachzug des britischen Premiers, der sich mächtig verkalkuliert hat, auszubalancieren und Großbritannien die Möglichkeit der Mitgliedschaft offen zu halten.

Nein, wir erleben es immer wieder: realisierte Großzügigkeit ist nicht das Ideal bundesdeutscher Außenpolitik - rethorische Großzügigkeit ist einfach. Etwas zurückzugeben von dem, was heute unsere Freiheit und unseren (relativen) Wohlstand ermöglichte, fällt weiterhin sehr schwer. Man muss regelmäßig daran erinnern: 1945 waren wir von der Großzügigkeit der Regierungen abhängig, deren Länder und Bevölkerungen von deutschen Truppen bombardiert, besetzt, niedergeworfen, zerstört und vernichtet worden waren. Kann es sein, dass die alte deutsche Aversion und Ambivalenz gegen Großbritannien, das von Großdeutschland überholt werden sollte, fortbestehen und sich jetzt in einer Politik fortsetzen, die darauf drängt, die Fakten des Austritts zu schaffen? Was sagte Dalia Grybauskaite noch in den Tagesthemen? Sie sagte: "Der Brexit ist eine Herausforderung für uns alle, nicht nur für Großbritannien".

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