Freitag, 23. September 2016

Journalismus-Lektüre XXXV (Beobachtung der Beobachter): Schlagzeilen auf der ersten (Zeitungs-)Seite - Lärm zum Weghören

Die Schlagzeile gehört zu unseren plastischen Wörtern, die keinen Hehl aus der Sache machen: die Leserin oder der Leser muss so getroffen werden, dass der Affekt das Nachdenken lähmt. Manche Schlagzeilen lullen einen so ein, dass man eine Zeit lang braucht, bis man merkt, wie man betäubt wurde.
Drei Beispiele aus dem Titelseiten-Schlaggeschäft der Zeitung für die klugen Köpfe.

1. Der Titel: Merkels Reich zerfällt. Die Union hat in der Landtagswahl von Mecklenburg-Vorpommern verloren. Berthold Kohler schreibt von ihrem Wahldebakel (F.A.Z. vom 6.9.2016). Ist das ihre Niederlage? Wenn es doch so einfach wäre! Angela Merkel als unsere Monarchin, die offenbar bald keine Monarchin mehr ist. Berthold Kohler spricht von der waidwundenen Kanzlerin. Das sind Bilder! Dabei wurde Angela Merkel vom Bundestag in das Amt des Bundeskanzlers gewählt. In das Amt - nicht auf einen Thron. Und wer hat von wo aus auf sie geschossen? Und wer fantasiert einen Schuss? Heute wird nur noch gewählt. Es sind natürlich viele Auslegungen möglich. Aber irgendwie: geht viel durcheinander.
  

2. Der Titel: Amerika will 14 Milliarden von der Deutschen Bank. So was: die kleine Bank und das große Land. Und dann gleich vierzehn Milliarden.  Es ist das nordamerikanische Justiministerium, das diese Forderung stellt. Amerika will 14 Milliarden von der Deutschen Bank schürt das bekannte Ressentiment des Verdachts: vermutlich ist diese Forderung von vierzehn Milliarden Dollar, wird ein Bank-Fachmann zitiert, eine Retourkutsche des Finanzministeriums für die Forderung der EU-Behörde an den Konzern Apple, Steuern in Höhe von 13 Milliarden nachzuzahlen (F.A.Z. vom 17.9.2016, S. 1 und 21). Natürlich, wir hatten das neulich schon, ist die U.S.-Justiz unfair (s. meine Blogs vom 1.7. und 5.8.2016).

Wofür die vierzehn Milliarden? Für krumme Geschäfte, schreibt Jemand weiter hinten im Wirtschaftsteil (S.21). Krumme Geschäfte sind das Wort einer mächtigen Untertreibung für die Existenz-vernichtenden Manöver der inflationären Kreditvergabe der Deutschen Bank. Krumme Geschäfte sind das Wort einer Ent-Schuldung; es hat keinen Blick für die Not der Kreditnehmer. Krumme Geschäfte sind, muss man vermuten, das Wort eines Schutz-Versuchs: die Qualität der Korrumpiertheit bleibt unklar. Achtzehn Tage zuvor, am 29. August 2016, erschien in The New Yorker der Text von Ed Caesar The  Moscow Landromat. Die Moskauer Geldwäsche, beschreibt Ed Caesar, wurde von der dortigen Filiale der Deutschen Bank betrieben. Man muss den Text lesen, um das Ausmaß der Korruption, der Kriminalität und des Handelns in den Grauzonen der Legalität zu realisieren, das mit dem Wort der krummen Geschäfte verdeckt wird. Man muss auch den Text lesen, um die Differenz zu realisieren zwischen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem The New Yorker: zwischen der Absicht zu verklären und der Absicht zu klären. Oder sollten die Journalisten der Frankfurter Zeitung den Text ihrer New Yorker Kollegen nicht gelesen haben?


3. Der Titel: Winterkorn soll Vertuschung gebilligt haben (F.A.Z.  vom 26.9.2016, S. 1). An dem Satz fällt zweierlei auf: 1. die Nachricht wurde in der Form eines Gerüchts formuliert;  die zitierte Quelle ist die Bild am Sonntag; 2.  das Wort Vertuschung vernebelt die Kausaliät der Verantwortung - dank der Substantivierung ist das Subjekt des Betrugs verschwunden. Winterkorn, sagt der Titel, hat nur noch: gebilligt. Wer will das glauben? Ein massiver Betrug, der die Existenz eines Konzerns riskiert, wurde nicht mit der Leitung des Konzerns abgestimmt? Wie soll das gehen, wenn schon die Anschaffung eines Lochers genehmigt werden muss? Wenn also Angestellte in einer Organisation mehr oder weniger schnell lernen, die Wege der Hierarchie einzuhalten? Der Betrug ging nicht ohne die Leitung des VW-Konzerns. Das lässt sich begründet behaupten.

Warum konfrontieren die Redaktionen der Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Leserschaft nicht mit dieser Behauptung? Meine zwei Vermutungen: 1. die Furcht vor zivilrechtlichen Klagen des VW-Konzerns; 2. die Furcht vor den Leserinnen und Lesern, denen die Redaktionen zutrauen,  mit dem VW-Konzern zu sympathisieren und den Betrug zu entschuldigen.  Etwas Mut wäre nicht schlecht.

(Überarbeitung: 18.2.2019)  



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