Donnerstag, 29. September 2016

Worte zum Einlullen VI: "Spaltung"

Die Spaltung ist ein lästiges Klischee und wird ständig benutzt. Wir hatten: die gespaltene Persönlichkeit. Das war das Wort des Unverständnisses für die wechselnden Verfassungen eines Menschen, die von außen gesehen unverständlich wirkten; sie sind - möglicherweise - ein Beleg für die schwankende funktionale Qualität der Synthese und Integrität seiner unterschiedlichen Selbstzustände. Man müsste ihn dazu gründlich befragen. Wir haben die gespaltene Nation. Wie kann ein Land gespalten sein? In ein Dafür und ein Dagegen einer bestimmten Sache gegenüber? In einem Land gibt es ein Spektrum Millionen differierender Auffassungen und Haltungen. Wie will man die auf einen Nenner bringen? Bei einer Wahl wird das Spektrum gewissermaßen verdichtet auf einige Dafür- oder Dagegen-Ankreuzungen. Wir werden gezwungen, uns zu entscheiden. Das ist die Ausnahme. Sonst haben wir kaum solide konturierte Auffassungen oder Haltungen; fragt man nach, sind wir oft verwickelt in unseren Widersprüchen, die wir nicht entwirrt kriegen. Gestern sah ich noch den Kurzfilm der Champions League, in dem die internationalen Fußballer und eine Fußballerin das No to Racism bekräftigten. Aber handele ich immer gemäß des Neins? Nein. Die eigenen Vorurteile gegen Fremdheit kann man nicht auswischen wie ein Wort von der Schiefertafel; aber man kann sie zu kontrollieren versuchen - was voraussetzt, dass ich sie mir zugestehe. Darf ich also Widersprüche haben und mich widersprechen?

Das Wort Spaltung sagt: nein. Wir sind etweder so oder so. Gut oder schlecht. Ganz binär. Die Komplexität eines Lebens wird reduziert. Das Wort Spaltung macht den Vorwurf des Konflikts:  es gäbe  keine Übereinstimmung. Das Wort Spaltung ersehnt die Aufhebung des Konflikts, wünscht sich die Umarmung und die Verschmelung mit der Fremdheit des Anderen.

Kommen wir zu meinem Alltagsbeispiel:

"EBZ-Politik spaltet deutsche Wirtschaftsforscher" (F.A.Z. vom 29.9.2016, S. 15). Oh je oh je: die Wissenschaftler sind sich uneins! Zum Charakter von Wissenschaft gehört der Streit um die Belegbarkeit von Hypothesen. Theorien haben unterschiedliche Haltbarkeiten. Thomas Kuhn, der Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker, der Mann, der das Paradigma populär machte, machte den Status einer Wissenschaft von der erprobten Haltbarkeit einer das Fach führenden Theorie abhängig; die Wissenschaften, die noch um ihre führende Theorie stritten, waren für ihn keine richtige Wissenschaft. Eine richtige Wissenschaft ist für ihn die Physik. Aber offenbar gibt es andere Wissenschaften. Was ist eine richtige Wissenschaft? Zumindest eine in ihren Annahmen bewegliche Wissenschaft. Das Finden der wissenschaftlichen Wahrheit (weil eine Theorie sehr haltbar und nicht mehr umstritten ist) muss aufgeschoben, der Streit über die Annahmen (Konzepte und Hypothesen) muss fortgesetzt werden. Wer ihn mit dem Vorwurf der Spaltung abzukürzen versucht, ist nicht hilfreich. Hilfreich wäre es, die wissenschaftlichen Differenzen würden hinsichtlich ihrer Konzeptionen für einen Laien so ausbuchstabiert, dass ich den Streit verstehen kann. Leider werde ich hier und da mit dem Klischee der Spaltung hingehalten.

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