Dienstag, 20. Dezember 2016

Das Wort zum Einlullen VII: "fake news"

Die Leute machen im Internet aus dem Internet, was sie wollen: sich austauschen, informieren, klären, behaupten, klatschen, tratschen, verleumden, hetzen, schimpfen, sich empören - kurz: im Internet wird gemacht, was sonst auch gemacht wird. Früher lagen die Leute im Fenster, auf einem Kissen abgestützt, und beobachteten die Passanten; das war ein Sonntagsvergnügen, als die Autos noch nicht ausgerollt werden konnten zur Fahrt zu einem hübsch gelegenen Café. Tage später wurden im Hausflur die Beobachtungen ausgetauscht, ausgedeutet und extrapoliert zu einem Gewirr von Vermutungen, die - so ist das leider bei Wiederholungen - sich zu pausiblen Geschichten entwickelten, die schließlich durchgingen als Beschreibungen tatsächlicher Lebensverhältnisse.

Klatschen macht Spaß und gehört zu unseren robusten psychohygienischen Aktivitäten. Früher standen nur die Nachbarn zur Verfügung; heute haben wir Nachbarn auf der ganzen Welt. Ist das kein Fortschritt der so genannten Globalisierung? Justin Timberlake ist wieder Vater geworden. Wer ist die Mutter? Verrat' ich nicht. Ob es stimmt, weiß ich nicht: ich habe keinen Zugang zu den Timberlakes.

Von Niklas Luhmann stammt das zutreffende Wort, dass wir das, was wir von der Welt wissen, von den, wie er sagt, Massenmedien wüßten. Das stimmt  -  irgendwie. Man muss ein paar Einschränkungen machen. Wir wissen etwas und wir glauben, etwas zu wissen. Wo kriegen wir unsere Gewissheiten her? Schwer zu sagen. Jemand, dem wir zu glauben geneigt sind, hat uns überzeugt. Dabei leben wir hinsichtlich des vermittelten Wissens (meistens)  aus vierter, fünfter, sechster...x-ter Hand. Wir wissen (meistens) gar nicht, wie welche Nachricht von wem gewonnen wurde. Wir kennen (meistens)  nicht die Händler-Ketten der Verkäufer und Käufer von Nachrichten. Wir wissen (meistens) nicht, wie eine Nachricht zustande kam. Wir erfahren unendlich mehr, als wir überprüfen können. Wir sind - ob Niklas Luhmann diesen Prozess unterschätzte? -  die Beobachter von vielen anderen Beobachtern, die mit dem Beobachten ihr Geld verdienen; wobei wir (meistens) nicht wissen, wie gut sie beobachten. Entscheidend ist die Plausibilität der Beobachtungen: inwieweit sie den eigenen Wahrnehmungen, Überzeugungen, Erfahrungen, Konzepten und - Vorurteilen entgegen kommen. Im Englischen gibt es die selbstironische Formel dessen, der von sich sagt, dass das, was er nicht wisse, auf eine Briefmarke passen würde. Natürlich ist es umgekehrt: was wir wissen, passt auf eine Briefmarke. Eltern erläutern ihren Kindern Kontexte, die sich später, wenn die Kinder sich aufmachen, die Geschichten ihrer Eltern auszulüften, sich als erfunden oder als Bluff erweisen. Was erweist sich als tragfähig? Vielleicht deren Haltung oder Grundüberzeugungen. Aber deren Wissen und Informationen über das Funktionieren der Welt? 

Das Erfundene gehört zum Leben - und wahr ist es auch. Denn das Erfundene transportiert und artikuliert meinen Affekt, den ich bestätigt erleben möchte. Zu welchen Kontexten mein Affekt gehört, ist schwer anzugeben. Jetzt haben wir die Empörung über die "fake news". Lügen im Netz schrieb heute morgen Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeine (vom 20.12.2016, S. 1, Nr. 297). Die fake news - einmal anders als nur durch die journalistische Empörung über die bedrohliche Konkurrenz verstanden - sind auch ein Test der Vorurteilsbereitschaft: was bin ich geneigt, für wahr zu halten? Die  fake news produzieren einen Kreislauf, in dem Produzent und Adressat oder Rezipient das Fest der Entdifferenzierung feiern.

Ist das so neu? Und ist es nicht herrlich, wenn man sich in seinen Vorurteilen bestätigen lassen kann - sich eins mit den anderen zu wissen? Die Erfahrung des Verschmelzens ist das Antidot gegen die Vereinsamung. Dass Politik den Charakter verdirbt hören wir doch schon seit Generationen. Dass die da oben  nur den eigenen Vorteil im Kopf haben hören wir seit Generationen. Diese Kapitalismus-Kritik ist uralt. Jetzt kommen die Journalisten dran - Stichwort: die Lügenpresse. Der Vorwurf ist auch uralt. Honoré de Balzac kritisierte in seinem Roman Verlorene Illusionen die journaille scharf. Die Lügenpresse ist ein ungelenker, naiver Vorwurf mit einer kontaminierten Geschichte. Er ist gut für eine selbstgerechte, heftige Empörung von Journalisten. Gelogen wird nicht, würde ich sagen, eher zu schnell geschrieben.

Nehmen wir das Beispiel von Helene Bubrowski. Sie schreibt:
"Angeheizt durch entfesselten Hass, werden in der Parallelwelt (des Internet) aus gefühlten Wahrheiten schnell Aufträge zum Handeln. So stürmte kürzlich ein Mann in eine Washingtoner Pizzeria und schoss um sich, weil er der Theorie anhing, Hillary Clinton stehe im Zentrum eines Kinderpornorings, der aus dem Keller der Pizzeria heraus agiere".

Helene Bubrowski erzählt die Geschichte einer direkten Kausalität. Entfesselter Hass steigert die Körpertemperatur - wie hoch eigentlich? Ein solcher Prozess der psychischen Entdifferenzierung hat mit einem Aufheizen nichts zu tun. Das Seelische ist kein Ofen. Zudem soll er sich zur Mitteilung eines Auftrags formieren, den der Mann aus Washington aufnahm und womöglich später  als Rationalisierung seines mörderischen Vorurteils ausgab. Mit dem Adverb so (im zweiten Satz) versucht Helene Bubrowski, die Kausalität zu begründen. Das ist unsauber argumentiert. Zudem wird man den Motivkomplex schlecht eine Theorie nennen können. Der Umgang mit dem Begriff Theorie  ist unscharf und inflationär. Direkte Kausalität und verkehrte Begriffsverwendung sind hier zwei Merkmale eines schlechten Journalismus, der nicht lügt, aber schludert.  Fake news ist der journalistische Kampfbegriff gegen die bedrohliche Konkurrenz des Internet. Aber ist nicht jeder sprachliche Kontext erfunden? Gestaltet? Mit dem eigenen Verständnis unterlegt? Man muss sich über die Qualität des Kontexts verständigen. Das fake als Disqualifikationsmerkmal ist zu wenig. Der bei uns propagierte Qualitätsjournalismus muss sich von Fall zu Fall bewähren. Unsere Wirklichkeiten sind äußerst komplex. Das Fuchteln mit dem Konzept der Wahrheit wirkt hilflos. Wir kriegen nur Annäherungen hin, die beweglich bleiben müssen und nicht in die schlichte Dichotomie von richtig oder falsch gezwängt werden - wobei allerdings die dichotome Logik die Mathematik der Digitalisierung ziemlich vorangebracht hat. Wir werden - dies ist mein Eindruck - gezwungen, uns dieser Logik zu fügen. Das, vermute ich weiter, wird heftige Konflikte erzeugen. Den Aufschrei können wir bereits vernehmen.

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