Sonntag, 11. Dezember 2016

Wilhelm Salber ist tot

Wilhelm Salber, am 2.12.2016 gestorben, der Lehrstuhlinhaber für das Fach Psychologie an der Kölner Universität von 1963 bis 1993, war der ungewöhnliche Professor mit seiner eigenen, eigenwilligen, weit reichenden Konzeption, die er die Morphologie des seelischen Geschehens nannte und darin Goethes Idee der Morphologie, Phänomenologie (Husserl, Heidegger und Sartre), Gestaltpsychologie (Lewin), Ganzheitspsychologie (Sander und Wellek) und die Psychoanalyse Freudschen Zuschnitts aufnahm und übersetzte. Ideologisch armierte Frontstellungen scherten ihn nicht. Was er sinnvoll fand, brachte er zusammen. Was er nicht sinnvoll fand, dekonstruierte er erbarmungslos und fröhlich - das Seelische, fand er, lässt sich nicht lokalisieren, weder in einem wie auch immer konzipierten Inneren eines Menschen, noch im Gehirn; es gibt kein Innen und kein Außen, Subjekt und Objekt sind unlebendige Abstraktionen; das Seelische lässt sich nur entdecken in der unendlichen Vielfalt der Lebens- und Handlungsformen, ihrer Variationen, Modifikationen, Brüche, Zusammenbrüche und ständigen Neu-Produktionen. Das Seelische, salopp gesagt, ist das Prinzip und der Formausdruck des Lebendigen - kein System neben dem (vermeintlich) anderen System des Körperlichen, sondern Grundlage unserer Existenz in den vielen Formen unserer Lebens-(Alltags-)praktischen wie institutionalisierten Kultivierung.

Das war für unsereinen, der sich mit seiner Angst und Scham durch ein Kölner altsprachliches/neusprachliches Gymnasium gequält hatte, schwer zu hebender Stoff. Wilhelm Salber sprach vom Kino und ließ mich aufleben. Was für ein Kontrast! Er befreite, befeuerte und deprimierte. Seine Konzeption klang einfach, war aber enorm schwierig. Die Welt des Seelischen ist komplex und schwer zu erfassen. Wilhelm Salber verkaufte sie nie in kleinen Münzen. Er empfahl, die Komplexität nicht zu verraten. Den NeuroNeuro-Mumpitz verspottete er als unseren modernen Mythos. Qualitative, beschreibende und hermeneutische Forschung kam vor der quantitativen Forschung, lange Interviews vor kurzem Abhaken von holzschnittartigen Fragen. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie, soll Kurt Lewin gesagt haben. Das Problem der Morphologie des seelischen Geschehens ist, dass ihre Praktikabilität sich erst nach vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten erweist. Nach zwei Jahrzehnten Berufstätigkeit begriff ich langsam, welchen Reichtum ich in den Jahren meines Studiums (1964 - 1971) bei Wilhelm Salber aufgenommen und welches robuste Rüstzeug ich bei ihm erworben hatte. Schnelles Ernten, weiß ich heute, taugt wenig.

(Überarbeitung: 11.3.2020) 

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