Mittwoch, 29. April 2020

Covid-19 und die idolisierte und verachtete/gefürchtete Position von Wissenschaft

Wissenschaftlich ist in unserer öffentlichen Diskussion ein Adelsprädikat, Wissenschaftlichkeit ein Fremdwort. Eine wissenschaftliche Studie geht mit ihren Befunden häufig einfach durch, die Qualität ihrer Wissenschaftlichkeit gilt unbesehen. So erhalten beispielsweise Meinungsumfragen enormes Gewicht; mit den durch die  Sonntagsfrage der A.R.D. ermittelten Prozentanteilen der Bundesparteien besetzen die Leute von den Tagesthemen die Agenda der öffentlichen Aufgeregtheit. Die Art und Größe der Stichprobe, die Kennzeichen der Repräsentativität, die Formulierung der einzelnen Fragen, den Typus der Befragung (offen oder standardisiert, Dauer, telefonischer oder direkter Kontakt, Quote der Verweigerung) erfahren wir nicht - eine Chance, deren Wissenschaftlichkeit selbst abschätzen zu können, bekommen wir nicht. Eine Umfrage ist eben eine wissenschaftliche Umfrage.

Seit einigen Jahren beobachte ich den inflationären Gebrauch des Begriffs Theorie. Sie taucht in vielen Kontexten auf und hat viele Konnotationen. Eine Theorie kursiert in Schrumpf-Form als: Gerücht, Behauptung, begründete oder unbegründete Vermutung, Hypothese. Nur nicht als Theorie. Gegenwärtig hat die Verschwörungstheorie Konjunktur. Was ist eine Verschwörungstheorie? Ein beklopptes Wort. Ursprünglich, wenn ich mich richtig erinnere, ironisch gemeint, ist der spöttische Klang verschwunden; jetzt ist es salonfähig geworden. Was verbirgt es? Den mehr oder weniger monströsen Verdacht eines Schlaumeiers. Den aufgeblasenen Testballon eines Intriganten. Die aggressiv aufgeladene Projektion eines verbohrten Übellaunigen nach dem vertrauten Motto: Haltet den Dieb! Wenn der Begriff der Theorie vom kursierenden Sprachgebrauch so planiert wird, leidet das Bild von Wissenschaftlichkeit.

Das konnte man letzten Sonntag (28.4.2020) in der Sendung Anne Will beobachten, als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und der Partei-Vorsitzende der Freien Demokraten Christian Lindner über die willkürliche Expertise einiger Virologen und Epidemiologen klagten und damit Auskunft gaben über ihr Missverständnis von Wissenschaftlichkeit und über ihr arrogantes Herrschaftsgebahren über die Wirklichkeit: sie soll einfach und zweifelsfrei sein. Von Komplexität wollten die Herren Laschet und Lindner nichts wissen. Sie sind die Getriebenen bedrängender Interessen. Weshalb sie von Wissenschaftlern  Zuarbeit - sprich: Unterwerfung verlangten , aber nicht Verständnis der Wirklichkeiten. Die im Grundgesetz verbriefte Freiheit der Forschung (Artikel 5) war ihnen zuviel oder zu schwer auszuhalten. Dabei sind die Korrekturen und Revisionen der (plausibel und gut) begründeten Vermutungen und Hypothesen der Epidemiologen und Virologen gerade Ausdruck ihres kontrollierten, konzeptgeleiteten wissenschaftlichen Vorgehens in den verschiedenen Phasen des verunsichernden Nicht-Wissens vom Verlauf des pandemischen Prozesses.

Kann sich ein Laie auch schlau machen? Sie oder er kann. Voraussetzung ist: die Erläuterungen der Fachleute aufnehmen und nach dem Gefühl für Plausibilität und Evidenz abschätzen.  Einfache, grelle Bilder als Übersetzungshilfen für die Komplexität machen mich misstrauisch. Christian Drostens geduldige, ausführliche Erläuterung und Übersetzung der Struktur des Viruses - Beispiel: 30.000 Basen-Paare des Genoms lassen sich auslesen und identifizieren (2. Podcast) - , seine penible, systematische Lektüre der aktuellen, internationalen Forschungsliteratur waren und sind Werbung für sein Fach und Ausweis seines wissenschaftlich begründeten Vorgehens.  Inzwischen liegen die Podcasts des N.D.R. mit Christian Drosten auch transkribiert zugänglich vor. Eine strapaziöse, lohnende Lektüre. Ich empfehle sie als Pflichtlektüre.      


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