Dienstag, 21. April 2020

Jens Spahn, Jürgen Habermas und Christian Drosten: Kommunikationsformen über Covid-19

Gesundheitsminister Jens Spahn bilanzierte am Freitag, dem 17.4.2020, auf der Pressekonferenz zusammen mit Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut:
"Der Ausbruch ist, Stand heute, wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden".
Die gute Nachricht: der Infektionsfaktor ist (statistisch) kleiner als eins geworden. Ist die Pandemie deshalb wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden? Wohl kaum. Das Verbum beherrschen impliziert das Gefälle eines Machtverhältnisses. Zu einem Virus, der einen natürlichen Prozess unterhält, gibt es kein Machtverhältnis: wenn wir gut ausgerüstet sind, sind wir entweder ausreichend immunisiert oder wir können uns immunisieren (lassen). Soweit sind wir noch lange nicht. Das müsste Jens Spahn wissen. Er steigert das Adjektiv beherrschbar in beherrschbarer. Ich nenne das den kalmierenden Komparativ: die Technik der Beschwichtigung. Jens Spahn glaubt, uns mit einer Illusion einlullen zu müssen. Er steht offenbar unter immensem Druck und versucht, sich mit einem heiklen Manöver zu entlasten.

Jürgen Habermas sagte am 10.4.2020 in der Frankfurter Rundschau (https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juergen-Habermas-coronavirus; abgegriffen am 13.4.2020, 12:52):
"So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie".
Diese Unsicherheit ist nicht neu. 1985 kam Jürgen Habermas mit dem Suhrkamp-Büchlein Die neue Unübersichtlichkeit heraus. Damit war er nicht weit von heute entfernt. Von Niklas Luhmann stammt die Faustregel: Wissenschaft erzeugt ebenso Wissen wie Nichtwissen. Der Fortschritt schreitet nicht einfach fort. Die Erfahrungswissenschaften erzeugen keine Beton-festen Gewissheiten, sondern vorläufige Annäherungen an die Wahrheiten von Wirklichkeiten.  Normalerweise werden die Grenzen des wissenschaftlich generierten Wissens  verschwiegen. Man muss sich nur die robuste Politik von Wissenschaft vor Augen halten:  Aquisition (von Forschungsgeldern) betreiben, Macht gewinnen, Ungewissheit vertreiben. Wissenschaft, in ein paar Minuten in den Tagesthemen und in anderen, ähnlichen Programm-Sparten des Fernsehen verkündet, soll zum guten Schlaf beitragen.  Das Adverb nie liegt außerhalb der Reichweite seiner Erkenntnismittel; es sollte nicht zum Wortschatz eines Sozialwissenschaftlers gehören - Jürgen Habermas nähert sich dem Trost-Kitsch.

Das Antidot dazu ist  Christian Drosten, den der Radiojournalist Adrian Feuerbacher  und die Radiojournalistinnen Korinna Henning, Katharina Mahrenholz und Anja Martini zu dem N.D.R.-Podcast-Projekt einluden, zur Covid-19-Pandemie virologische Theorien und Forschungspraxen sowie epidemiologische Konzepte ausführlich in einem unaufgeregten, nicht bedrängenden Gesprächsrahmen zu erläutern. Das war ein glänzender Einfall und ein Glücksgriff in einem. Christian Drosten vertritt das Ideal der redlichen und nüchteren Wissenschaftlichkeit; an der Korruption durch den Glamour  der Aufgeregtheit ist er desinteressiert. Das Format des Podcast genügt ihm. Das zehnköpfige Team des Senders unterstützt ihn in seinem Engagement, ein angemessenes, realistisches Bild des Virus und des pandemischen  Prozesses zu zeichnen, und stellt die Texte der Gespräche mit einem Schlagwort-Register zur Verfügung. Inzwischen wurde Christian Drosten mit dem Sonderpreis für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der Covid 19-Pandemie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes ausgezeichnet (F.A.Z., 21.4.2020, S. 9). Eine Auszeichnung, die wir feiern sollten. Die Mannschaft der Hamburger Radioleute sollten wir einschließen. Ein Hoch auf alle Beteiligten! 

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