Mittwoch, 29. April 2020

Die Gesichtsmaske und der Sicherheitsgurt

Vor 50 Jahren hatten wir eine ähnlich laute, allerdings nicht so tief beunruhigte Aufgeregtheit der öffentlichen Diskussion. 1970 war das Jahr der gut 19.000 tödlich verunglückten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. Die Bundesregierung  unternahm zwei Schritte: die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung und die Einführung einer Anlegepflicht von Sicherheitsgurten. Der öffentliche Aufschrei hallte durch die Republik. Er war enorm. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen (100 km/h) wurde gegen Riesen-Getöse durchgesetzt, auf Autobahnen nicht - offenbar für politischen Mut: unmöglich. Die Kompromißlösung war die Empfehlung von 130km/h. Der Sicherheitsgurt war äußert unbeliebt. Eine Minderheit votierte für das Anlegen des Gurtes. Die Mehrheit lehnte es ab. Das Gurtanlegen setzte eine Anstrengung voraus: weil der Gurt vor den gravierenden Folgen eines Unfalls schützen sollte, musste er mit der Überzeugung einer Unfall-Möglichkeit angelegt werden. Mit der Anstrengung, diese Vorstellung aufzubringen, zeigten die Motivstudien zum Anlegen, stieg man damals ungern in sein Fahrzeug - sie ging einem buchstäblich gegen den Strich der Freude am Fahren.

Der Gesetzgeber führte die gesetzliche Anlegepflicht Mitte der 70er Jahre ein; die versäumte Pflicht wurde nicht sanktioniert. Anfang der 80er Jahre wurde ein Bußgeld erhoben; seitdem wird die Anlegepraxis kontrolliert und gegebenenfalls geahndet. Damals setzte sich der Gesetzgeber gegen die Ablehnung der Mehrheit durch. Er hatte die Unfallforschung gewissermaßen auf seiner Seite. Der australische Staat Victoria hatte die wissenschaftliche Vorarbeitet geleistet: der Sicherheitsgurt reduzierte dort für die Autofahrerinnen und Autofahrer äußerst effektiv die Unfallfolgen. Victoria wurde für die westdeutsche Verkehrspolitik zum Vorbild. Das Anlegen wurde bei uns zur Selbstverständlichkeit. Das Tempolimit bleibt dagegen unsere Heilige Kuh, deren Bewegungsspielraum bislang keine Regierung anzutasten wagte.

Jetzt haben wir die Pflicht, in den öffentlichen Räumen der Geschäfte und des Nahverkehrs eine Gesichtsmaske anzulegen. Ihre Schutzfunktion ist umstritten. Die Forschung favorisiert den Gebrauch der Masken. Was wollen wir mehr? Offenbar die Gewissheit des Nicht-Zweifeln-Müssens. Dabei sind wir, wie wir jetzt wieder erfahren, vor Überraschungen nicht sicher: im Leben geht viel daneben. Diese Lebenserfahrung ist trivial. Man muss sich dennoch regelmäßig dran erinnern. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, lautet eine unserer vielleicht abgedroschenen, vergessenen Alltagsweisheiten. Im Flugverkehr  - der im Augenblick allerdings nicht verkehrt -  ist sie noch immer die Regel und hat sich bewährt. Erstaunlich, nicht? Dort war auch das Anlegen des Gurtes keine Frage. Die mütterliche Konnotation der Alltagsweisheit sollte uns nicht bockig machen. Die Covid-19 Pandemie lehrt uns die Vorsicht und die Notwendigkeit, unsere Lebensformen zu überdenken. Wer auf Sicht fährt, wie die Berliner Politiker ihr tastendes Entscheidungs-Tempo hinsichtlich der Pandemie umschreiben, muß langsam fahren und behutsam steuern.


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