Donnerstag, 25. Februar 2021

Anne Wills Brotsamen am 14.2.2021

Am Sonntag, dem 14.2.2021, begann Anne Will (mit Hilfe ihrer Redaktion) ihre Rederunde  forsch. Lockdown statt Perspektivplan - ist die deutsche Pandemiepolitik wirklich alternativlos? fragte sie. Die Merkelsche Lieblingsvokabel Alternativlosigkeit, das für eine promovierte Naturwissenschaftlerin erstaunliche Missverständnis des Wortes Alternative (das die Bundespartei des Eigentors auch nicht verstanden hat), diente Anne Will zu einer milden Kritik mit dem Versprechen eines neuen Ausblicks. Eingeladen waren: Melanie Amann (vom SPIEGEL), die einzige Journalistin, Annalena Baerbock, Christian Lindner, Olaf Scholz und Markus Söder. Eine vertraute Runde. 

Das 35 ist das neue 50. Fühlten Sie sich auch überrumpelt?, fragte Anne Will die Journalistin Melanie Amann. In der Pressekonfrerenz am vorausgegangenen Mittwoch hatte unsere Kanzlerin die neue Inzidenzmarke von 35  ausgegeben als den neuen, für sieben Tage konstanten neuen Grenzwert (statt 50) für einen möglichen Spielraum, den so genannten lockdown hier & da aufzuschließen. 35 statt 50. Die Szene aus der Pressekonferenz mit der Kanzlerin vom Mittwoch wurde eingespielt. Dort war die Kanzlerin gefragt worden, wie lange die 7-Tage-Inzidenz von 35 bestehen sollte, um einen Eingriff in den Bewegungsradius der Leute zu rechtfertigen. Angela Merkel antwortete wie folgt:

"Mindestens drei Tage, sage ich mal, irgendwas zwischen fünf und drei Tagen oder drei und fünf Tage sollte es sein...Sie können davon ausgehen mindestens drei Tage...." (wörtliche Mitschrift).

Erstaunlich, dass unsere Kanzlerin damit durchkam; niemand frug nach. Angela Merkel, reichlich strapaziert, schwamm. Sie war nicht gut vorbereitet. Sie hatte sich irgendwie durchgesetzt und ihr Gewurschtel zwischen Mahnen, Flehen, Drohen, Beschwichtigen, Haareraufen usf. behauptet. Anne Wills Stichwort vom Perspektivplan als Gegenentwurf der Klarheit half auch nicht. Die Perspektive ist angesichts des instabilen, fluktuierenden pandemischen Prozesses das Wort eines nicht einlösbaren Versprechens. Die Perspektive hat sich aus dem lateinischen Verbum perspicere entwickelt und bedeutet: durchsehen,  beschauen, untersuchen, durchschauen, wahrnehmen, erkennen.  Niemand übersieht den pandemischen Prozess. Die Wege der Infektion sind zu einem Viertel bekannt, die Orte ebenso. Das Virus wird offenbar vor allem in privaten, bislang  (noch) unbekannten  Kontexten übertragen. Deren sozialwissenschaftliche Erforschung steht noch aus. Es ist erstaunlich, dass diese Forschung - der privaten Umgangsformen mit und Haltungen zu der Pandemie -  noch nicht richtig in Gang gesetzt wurde. Oder habe ich etwas übersehen?

Anne Wills Rederunde bewegte sich im Gewusel konzeptionsloser Hilflosigkeit. Das hängt mit der Technik der Moderatorin zusammen, ihre (gut honorierten) Gäste abzufragen, um sie auf kontroverse Positionen festzulegen und die Konkurrenz zu fördern, aber nicht in einen Gesprächprozess des geduldigen und nachdenklichen Erörterns zu bringen. Dafür sind talkshows nicht gebaut. Ihr Problem ist das ihnen zugrunde liegende, korrumpierende Geschäft: für die Strapaze der exponierten Selbstpräsentation im elektronischen Medium die Entschädigung durch die für die eigenen Interessen werbende Anwesenheit - anderenfalls (stelle ich mir vor) würden sie kaum toleriert werden. Die Landtagswahlen und die Bundestagswahl waren die latenten Kontexte. Annalena Berbock warb für einen Kinderhilfsfonds. Olaf Scholz räumte spitzbübisch seine Unkenntnis des Infektionsschutzgesetzes § 28 A, Absatz 3 ein; es ordnet bei einer größeren Inzidenzmarke von 50 umfassende Schutzmaßnahmen,  bei einer größeren Inzidenzmarke von 35 breit angelegte Schutzmaßnahmen und kleiner als 35 Schutzmaßnahmen an, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. Er kannte die Systematik nicht. Deshalb wusste er auch nichts zu deren Konzeption zu sagen. Keiner der Anwesenden wusste es. Was sagt uns das?

Eine tiefe Ambivalenz  existiert. Klarheit ist gefragt, wird aber nicht gesucht. Die Konzepte sind verwirrend, die Sprache der Konzepte ist unscharf. Das (einzige) plausible und energische Konzept der Gruppe um Michael Meyer-Hermann (vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung) wurde nicht diskutiert. Die englische Vokabel Lockdown spricht vom  Rückzug, indem man sich vor einer sichtbaren Gefahr einschließt und sich in den eigenen vier Wänden verriegelt. Was ist der Rückzug im pandemischen Prozess? Kontaktvermeidung ist die gängige Vokabel. Wie geht das? Wie macht man das? Man muss die Anstrengung der Verfremdung und Ernüchterung von Beziehungen und des permanenten Verdachts aufbringen. Das geht gegen unsere Natur. Es geht nicht einfach. Es soll aber einfach & schnell gehen. Illusionen wurden bei Anne Will wieder aufgetischt.  Das Fernsehgerät schaltete ich mit dem sprichwörtlichen dicken Kopf, der keinen klaren Gedanken mehr produziert, und einem flauen Magen aus. 


(Überarbeitung: 26.2.2021)

 

  

  

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