Montag, 14. März 2011

Der Bluff mit der Präzision

Sigmund Freud war überzeugt, dass sich die leise Stimme der Vernunft, wie er das nannte, durchsetzen würde. Manchmal hat er recht. Die Vorzüge der Psychotherapie als eines nicht-invasiven Verfahrens sprechen sich herum.  Dazu wurde ein Interview mit Mathias Berger, Chef der Psychiatrischen Klinik der Universität Freiburg, in der SZ vom 12./13.3.2011 (S. 24) abgedruckt. Gefragt nach dem Fortschritt der Psychiatrie, antwortete Berger: 
"In der Pharmokotherapie passiert so gut wie nichts, obwohl wir seit zwei Jahrzehnten 'Dekaden des Gehirns' feiern. Dafür aber hat seit Mitte der 1990er Jahre die Psychotherapie eindrucksvoll ihren Einzug in das Fach gehalten - und sie entwickelt sich beständig weiter".
Mathias Berger erläuterte:
"Der wichtigste Trend ist, dass die großen therapeutischen Schulen sich auflösen. Wir behandeln zunehmend störungsspezifisch, indem wir die besten Bausteine aus kognitiver Verhaltenstherapie, psychodynamischen oder sonstigen Verfahren herausnehmen und daraus maßgeschneiderte Therapien für die jeweilige Störung entwickeln - sei es eine Schizophrenie, eine Angsterkrankung oder eine Depression". 
Drei Aspekte dieser zwei Sätze will ich aufgreifen.
1. Die großen therapeutischen Schulen lösen sich nicht auf, sondern fressen sich auf. Psychoanalytische Konzepte werden kannibalisiert. Das Konzept der Abwehr oder der Übertragung wird übernommen, ohne auf deren Autor - in diesem Fall: Sigmund Freud - zu verweisen. Berger spricht von den sonstigen Verfahren, mit denen er die Psychoanalyse meint.
2. Von jedem das Beste. Aus der Kinderstube wissen wir, dass die Märklin-Bauteile nicht mit Lego-Bauteilen verschraubt werden können. Das Gleiche gilt für psychotherapeutische Verfahren, die unterschiedliche Konzepte haben und unterschiedliche Haltungen voraussetzen. Die Baukasten-Fantasie berücksichtig nicht oder verachtet die Architektur von Konzepten.
3. Die Rede von der maßgeschneiderten Präzision  enthält ein Missverständnis. Psychotherapie ist die asymmetrische Begegnung zweier Menschen, die eine gemeinsame Sprache des Austauschs finden müssen mit dem Ziel, sich über eine Lebensgeschichte angemessen zu verständigen. Das geht nicht schnell. Das seelische System lässt sich auch nicht ausmessen. Eine fremde Lebensgeschichte zu verstehen ist schwierig. Die maßgeschneiderte Psychotherapie möchte davon absehen; sie möchte niemanden verschrecken. Sie möchte den Einruck erwecken, es ging so einfach zu wie beim Messen des Blutdrucks. Sie suggeriert eine Trennschärfe der Diagnosen. Dabei ist eine psychiatrische Diagnose eine  lockere Beschreibung der Symptome oder des Störungsbildes - keine Erklärung, die ein Verständnis voraussetzen würde.
Psychotherapie ist ein hilfreiches und sogar Kosten-günstiges Verfahren. Aber es ist kein einfaches, zügiges Verfahren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen