Sonntag, 13. Juli 2014

Kultur-Befürchtungen

Die Digitalität wühlt sich in unseren Alltag. Jetzt sogar ins so genannte Konsumenten-Verhalten - Frage: wie lange wird ein bestimmtes Buch gelesen?

"Die berechnete Erzählung" lautet der Titel des Textes von Johannes Boie im Feuilleton der SZ (12./13.7.2014, Nr. 158, S. 12) dazu. Der erläuternde Untertitel: "Texte, Musik und Filme, die viel gekauft werden, werden bei Weitem nicht immer zu Ende gelesen, gehört oder gesehen. Die digitale Technik zeigt exakter denn je, welche Werke wirklich beliebt sind. Es wird die Produktion verändern".
Jordan Ellenberg, Mathematiker und Kolummnist, hat aus den Markierungen, die Leser in den E-Books  anlegten, herausgerechnet, wie weit die Texte gelesen wurden, und daraus dann eine Art Liste der kaum oder wenig zu Ende gelesenen Bücher erstellt. Das Verfahren möchte ich hier (in der Eile) nicht vorstellen; ob es vernünftig ist, vermag ich auf die Schnelle nicht zu sagen. Jedenfalls - was wir doch schon längst wussten -: Bücher werden häufig gar nicht zu Ende gelesen; das gleiche gilt für andere Kultur-Produktionen.

Was folgt daraus? Für Johannes Boie sofort die apokalyptische Version - beispielsweise könnte aus dem so ermittelten Lese-Verhalten "eine große berechnete Erzählung entstehen". Die Folge: "Die wahren Stars werden die diejenigen sein, die die Zahlen der Maschinen, die den Erfolg und den Misserfolg von Produkten dokumentieren, umsetzen können in ein Werk, das genossen wird. Und zwar vom Anfang bis zum Ende".

Nein, das nenne ich eine wilde Extrapolation. Zuerst bewahrheitet sich Ludwig Marcuses Einsicht, dass nicht relevant sei, was einer liest, sondern, was ihn nicht langweilt. Wir kämen zu weniger Kultur-Heuchelei in vielerlei Hinsicht - bis zu jenem vermeintlichen Ausweis von wissenschaftlichem Vorgehen, das sich in einer Bibliografie von hunderten von Titeln dokumentiert, bei der man sich immer fragen kann: wie hat der Autor das alles gelesen? Zweitens: den unbekannten Publikumsgeschmack herauszufinden versuchen die, die Kultur-Produkte auf den Markt bringen, schon seit langem. Wie man weiß: es geht nicht. Das Problem ist: der so genannte Geschmack bildet sich erst in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen neuen Text,  Song oder  Film immer wieder aufs Neue. Drittens: der moderne, ständig wiederholte Fehl-Schluss, vom ermittelten Verhalten auf die subjektive Innenseite zu schließen. Viertens: das Vergnügen der mit der Apokalypse Geschäfte Treibenden -  wozu auch der verstorbene Herausgeber der FAZ Frank Schirrmacher gehörte - , die Zukunft schwarz zu malen, wir könnten dank der digitalen Technik komplett ausgerechnet werden in unseren Sehnsüchten, Fantasien, Wünschen und anderen Impulsen. Können wir nicht. Kann die N.S.A. nicht, kann die G.C.H.Q. nicht. Fünftens: das Vergnügen an und mit der Beschwörung der Apokalypse vermeintlicher Identitäts-Transparenz verdeckt unsere Sorge um die tatsächlichen nationalen wie globalen Gefahren (Armut, Klima, Hass, Entdifferenzierung und Desorientierung).

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