Freitag, 4. Juli 2014

Wiederkäuen

Daniel Kehlmann hat das Jahr 1959 entdeckt. Die FAZ (4.6.2014 ) und die SZ (3.7.2014, S. 14, Nr. 150) berichteten darüber. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung kontrastierte er, entnehme ich den Berichten, vier Ereignisse dieses Jahres: Ingeborg Bachmanns erste Frankfurter Vorlesung, Theodor Wiesengrund Adornos Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1963 bei Suhrkamp veröffentlicht), Fritz Bauers enorm umstrittene Vorbereitungen des ersten so genannten Auschwitz-Prozesses (der vom 20. Dezember 1963 bis zum 20. August 1965 geführt wurde) und Geza von Chiffras inszenierten und von Arthur Brauner produzierten Film Peter schießt den Vogel ab mit Peter Alexander in der Hauptrolle.

1959 war ich in der Obertertia, wurde ich konformiert, verliebte mich heftig und sah drei Filme, in deren Protagonistinnen ich mich ebenfalls verliebte: in Angie Dickinson aus Howard Hawks' Rio Bravo, in Eva Marie Saint (der heute in der SZ vom 4.7.2014 um 90. Geburtstag gratuliert wird) aus Alfred Hitchcocks North By Northwest  und Marilyn Monroe aus Billy Wilders Some like it hot (der ab 18 freigegeben war und in den ich mich als 14-Jähriger hineinschmuggeln musste). Mit diesen drei Filmen bin ich buchstäblich alt geworden - oder die mit mir. In selben Jahr kam bei uns auch Alle lieben Peter ins Kino mit Peter Kraus und der (wie ich) gleich alten Christine Kaufmann. Der Film war für den jugendlichen Kinogänger natürlich auch ein Ereignis. Peter schießt den Vogel ab verpasste ich damals. Allerdings sah ich damals Ich bin kein Casanova - ebenfalls von Geza von Chiffra inszeniert und mit Peter Alexander.

Peter schießt den Vogel ab bekam also jetzt die Daniel Kehlmannsche Breitseite ab. Unter sportlichen Gesichtspunkten ist das unfair: ungleiche Kaliber. Kehlmann konstatierte: eine "gespenstische Schattenwelt", den "geheimen Schauder der Vergnügungsindustrie" und eine "giftige, alles durchdringende Falschheit". Was war falsch an diesen häufig wie Kindergeburtstage aufgekratzten Filmen? Und was ist: alles? Natürlich kann man Vieles entdecken - ich habe es gerade in meinem Buch "Nachkriegskino" versucht. Man kann einen Nachhall heraushören: die forcierte Fröhlichkeit im Anblick der nationalsozialistischen Katastrophe - in einem solchen affektiven Kontext wurde ich im Sommer 1944 im Sauerland gezeugt. Man kann einen Überlebenswunsch heraushören. Man kann einen Wunsch des Vergessens heraushören. Was ist daran falsch?

Falsch ist: diese Wünsche als Verdrängungsanstrengung zu etikettieren - und zu verwechseln, dass Verdrängung ein psychoanalytisches Konzept ist, das für ein Subjekt, aber nicht für ein Kollektiv konzipiert wurde. Eine öffentliche Diskussion verdrängt nicht; Kontexte und Subtexte sind stets gegenwärtig. 1959 - als ein Gegenbeispiel, das Daniel Kehlmanns Argumentation empirisch widerlegt -  war auch das Jahr des Wolfgang Staudte-Films Rosen für den Staatsanwalt. In den 50er Jahren wurde nicht verdrängt. Sie waren eine äußerst turbulente Dekade (man muss nur die Bundestagsdebatten erinnern) der tief zerrissenen Bevölkerung eines um seine Identität ringenden, demokratisch verfassten, aber nicht etablierten Landes. Wohl wurde über die Explikation der nationalsozialistischen Zerstörungsorgie gerungen - gegen die Versuche, sich auf Zehenspitzen davonzustehlen, ohne die eigene strafrechtliche oder ethisch-moralische Verantwortung zügig zu klären. Mit anderen Worten: Daniel Kehlmann repetiert die Klischees unser vermeintlichen Vergangenheitsbewältigung, von der inzwischen klar geworden ist, dass sie nicht zu bewältigen ist, und verdeckt mit seiner Empörung und Verachtung die enorme Komplexität der Transformation unseres Landes.

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