Mittwoch, 30. Juli 2014

Politik-Lektüre IV

"Zum ewigen Unfrieden" überschrieb Stefan Ulrich seinen Kommentar in der SZ (S. 4, 19./20.7.2014; Nr. 164) zur gegenwärtigen beunruhigenden Lage: die Idee des ersten Bush-Präsidenten der Vereinigten Staaten, 1990 kommuniziert, von einer "Welt, die anders ist, als die, die wir bisher kannten", eine Welt des Rechts, die die Herrschaft des Dschungel ersetzen würde, habe sich nicht realisiert. Ewiger Krieg statt ewiger Frieden, lautet Ulrichs Beschreibung unserer Gegenwart. "Wie konnte", fragt er, "das Projekt des Präsidenten Bush scheitern?" Abgesehen davon, dass er den damaligen Präsident Bush idolisiert, wirkt seine jetzt enttäuschte Erwartung blauäugig.

Stefan Ulrich schreibt: "Der alte Bush hatte darauf vertraut, die Globalmacht USA werden mit ihren Verbündeten die Herrschaft des Rechts und der Vernunft durchsetzen, gestützt auf internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen. Stattdessen wurden die USA immer schwächer. Bushs Nachfolger Barack Obama wählt häufig die Rolle des Zuschauers. Die UN haben dramatisch an Bedeutung verloren. Die Europäische Union ist zwischen Schuldenmachern und Sparern, Putin-Verstehern und Putin-Fürchtern, EU-Freunden und EU-Verächtern gespalten. Sie schreckt in ihrer derzeitigen Verfassung niemanden von dem Einsatz von Gewalt ab".

Das ist eine schlichte Auflistung von Polaritäten. Ein Beispiel will ich herausgreifen: Bush handelte, Obama schaut zu. Ich gehe davon aus, dass Stefan Ulrich bislang den nordamerikanischen Präsidenten noch nicht ausführlich zu seinem Arbeitsalltag befragt hat. Der Zuschauer ist das Bild des Abwartens, Zögerns, Nachdenkens und Aufschieben von Entscheidungen. Oder, wie Adam Gopnik in seinem Blog für den New Yorker schrieb (31.7.2014), für den Mann, der sich vor einer handfesten Auseinandersetzung drückt (Adam Gopnik: No More Mr. Tough Guy).  Ein nachdenklicher, geduldig überlegender Staatschef wäre übrigens nicht schlecht. Wir erleben eine Staatschefin, die hier und da blitzartig in eine andere Richtung lenkt - und offenbar nur sehr kurz nachgedacht hat. Gerade schrieb Jeffrey Frank in seinem Blog für  The New Yorker (17.7.2014) über Obama's Unwritten History, weil Obama Kriege nicht führen und cruise missiles nicht abschießen ließ, weshalb eine militärische Geschichte bislang nicht geschrieben wurde. "But unwritten history", so Jeffrey Frank, "may turn out to be Obama's great achievement".

Drei Aspekte fallen mir auf: Stefan Ulrichs Unterschätzung der (nur zu ahnenden) ungeheuren Komplexität unserer internationalen Wirklichkeit, seine Geringschätzung geduldiger (interaktiver) Diplomatie und seine Konzeptionslosigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung und der (vielleicht) möglichen Gestaltung der Wirklichkeit - bei einem Liebäugeln mit einer militärischen Intervention. Hinsichtlich einer möglichen erneuten, militärischen Intervention der U.S.A. im Irak schrieb Jessica T. Mathews in The New York Review of Books ( vom 14.8.2014, S. 4, Heft 13) über die "Irak-Illusionen" (vermeintlicher) überschaubarer Wirklichkeiten:
"ISIS to begin, is only one of an almost uncountable mélange of Sunni militant groups. Besides ISIS, the Sunni insurgency that has risen up against the government of Nouri al-Maliki includes another jihadi group, Ansar al-Islam (Supporters of Islam), as well as the Military Council of the Tribes of Iraq, comprising as many as eighty tribes, and the Army of the Men of the Naqshbandi Order, a group that claims to have Shiite and Kurdish members and certainly includes many Sunni Baathists once loyal to Saddam Hussein". Was schlägt sie vor? Eine federale Staatsform. Die lässt sich aber nicht erzwingen; die muss ausgehandelt werden - in vielen Jahren. Das aber setzt eine präzise Kenntnis, Geduld und interaktives Geschick voraus. Eine schnelle, einfache Lösung gibt es - wie in jedem Leben - nicht. 

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