Donnerstag, 30. März 2017

Die Wahrheit. Die Wahrheit? Ja, die Wahrheit!

Die Wahrheit ist ein schwieriges, aber grundlegendes Konzept. Sie gehört zur Grundlage unserer demokratischen Verfasstheit. Sie ist die Basis unseres Rechtssystens. Wenn sie in einer Kultur der Korruption erodiert, ist die demokratische Verfasstheit gefährdet. Politikverdrossenheit ist auch eine Vokabel für das Gefühl der Erosion der Wahrheit. Die Wahrheit enthält eine tiefe Sehnsucht. Sie ist ein Handlungsideal; als Handlungskonzept muss sie sich (interaktive) Modifikationen gefallen lassen: auch die Unwahrheit ist wahr. Wilfred Ruprecht Bion, der britische Psychoanalytiker, sagte einmal (sinngemäß): die Seele wächst nur an der Wahrheit.

Bücher mit der Wahrheit im Titel gibt es zuhauf. Hans-Georg Gadamers schönes Buch Wahrheit und Methode (1975). Alfred Lorenzers tapferes Buch Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf (1974). Heute können wir erleben,  dass die Wahrheit nicht relevant ist oder zumindest nicht als Handlungsmaxime berücksichtig wird. Drei Beispiele.

1. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist beantragt; er wird verhandelt. Die britische Regierung und die Repräsentanten der beiden Häuser haben sich nicht getraut zu sagen: das
Referendum zum Austritt war eine Schnapsidee, nicht ernst gemeint und sollte dem Machterhalt des Premiers dienen. Nein, die Tories wurschteln weiter; sie bliesen das Projekt nicht ab, dachten nicht noch einmal gründlich über den tiefen Unmut ihrer Leute nach und riskierten keine Neuwahlen. Politiker sind auch Menschen. Aber bevor sie ihre Ämter antreten, leisten sie keinen Eid auf den Machterhalt, sondern den Eid auf das Wohl ihres Volkes.

2. Die Maut-Schnapsidee. Eine lange Legislatur-Periode beschäftigt dieses Biertisch-Projekt, geboren, um ein Bier-besäuseltes Gefühl von Gerechtigkeit zu befriedigen, Behörden, Beamte, Politiker, Journalisten und die von ihnen hergestellte Öffentlichkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Keiner nennt die Maut-Schnapsidee eine Schnapsidee. Politiker sind auch Menschen. Aber bevor sie ihre Ämter antreten, leisten sie keinen Eid auf den Machterhalt, sondern den Eid auf das Wohl ihres Volkes.

3. Die Verkehrspolitik. Seit 1973 wissen wir: der Autoverkehr muss im Dienste des sorgsamen Umgangs mit unseren Ressourcen und im Dienste des sorgsamen Umgangs mit unserem Planeten begrenzt werden. Als einziges Land der Welt leisten wir uns den Wahn, auf unseren Autobahnen, sofern die Geschwindigkeit nicht limitiert ist, so schnell fahren zu können wie wir können. Seit Mitte der 70er Jahre fand die automobile Hochrüstung statt. Was ist heute ein Auto wert, das nicht einmal 200 km/h zustande bringt? Wenig. Dann kam der Clou - wie bei der Atomindustrie -: das grandiose Versprechen, schnell fahren zu können (so schnell und komfortabel wie es geht), wenig zu verbrauchen und dabei noch die Umwelt zu schonen.

Von nix kütt nix,  weiß jeder Kölner. Nur unsere Öffentlichkeit schlief. Langsam wacht sie auf, reibt sich die Augen und realisiert den hoax der Autoindustrie (wie der Atomindustrie). Wie sagt man? Heulen & Zähneklappern. Ab 2020 gelten die Abgasnormen der EU: vier Liter Verbrauch, 95 g Treibhausgase. Wie soll das gehen?

Wenn ich an mein Autofahren denke: schneller (eher einen Deut langsamer) als 80 km/ kann man dann nicht fahren, besser gesagt: schneller darf man sein Auto nicht rollen lassen. Leichte Autos müssen her, elektronisch abgespeckt. Und nun?  Heulen & Zähneklappern. Die arme Autoindustrie. Sie durfte zu lange fantasieren. Das Fantasieren hört übrigens nicht auf: Circus Maximus wurde am vergangenen Dienstag (28.3.2017) der Text über den im Auftrag von Volkswagen gebauten Bugatti Chiron (420 km/h, 1500 PS) auf der ersten Seite der Zeitung für die (klugen) fantasierenden Köpfe angekündigt. Lange Rede, kurzer Sinn:  Politiker sind auch Menschen. Aber bevor sie ihre Ämter antreten, leisten sie keinen Eid auf den Machterhalt, sondern den Eid auf das Wohl ihres Volkes. Aber wen schert das Wohl des Volkes? Was sagte unsere Bundeskanzlerin vor ein paar Tagen (sinngemäß): eigentlich ist immer Wahlkampf. Das, muss ich anerkennen, war ein wahrer Satz.

Nachtrag: seit gestern kann man das T-Shirt der New York Times mit der Aufschrift Truth ordern.

(Überarbeitung: 31.3.2017)

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