Donnerstag, 5. November 2020

Erstaunliche bundesdeutsche Unkenntnisse: der 4. November 2020, ein Tag nach den U.S.-Wahlen

1. Donald John Trump hat nicht seinen Wahlsieg erklärt. In seiner ersten öffentlichen Erklärung beschrieb er die Prozeduren der Auszählungen, aus denen er als wiedergewählter Präsident hervorgehen werde... dann schob er nach: frankly, we did win. Wichtig ist hier das Adverb frankly, das man übersetzen kann mit: offen gesagt. Das aber ist eine persönliche Anmerkung - ein vorsichtiges Zugeständnis zur demokratischen Prozedur der Wahlen und der Auszählungen: eine (kleine) Einschränkung, die signalisiert, dass D.J.T. die Gefahr seiner Katastrophe wittert.

2. Unsere Öffentlichkeit hat sich auf den pathologischen Narzissmus des gegenwärtigen Präsidenten verständigt. Was er bedeutet, ist aber offenbar nicht verstanden worden. Beispiel ist der Kommentar von Berthold Kohler (F.A.Z., 5.11.2020, S.1): Trump bleibt sich treu. Bertold Kohler reibt sich die Augen. Hatte er erwartet, Donald J. Trump könnte sich ändern? Wie soll das gehen? Vorm Spiegel kommt ihm die Einsicht? Nein, Pathologie bleibt Pathologie. Seelische Erkrankungen reparieren sich nicht von selbst. So werden psychische Kontexte verniedlicht und verachtet. Seit einem guten Jahrhundert gibt es dafür die Verfahren der Psychotherapie/Psychoanalyse.  Was pathologischer Narzissmus im täglichen Umgang bedeutet, scheint nicht bekannt zu sein.  Es ist nicht so schwer. Donald John Trump ist eine ehrliche Haut: er tut alles, um seinen Stolz zu schützen. Entweder er redet  (öffentlich) Stuss oder er blufft, irritiert und schüchtert ein. Wahrscheinlich ist er selbst mächtig durcheinander; der Boden unter ihm bröckelt. 

3. Die U.S.A. kennen auch den Rechtsweg. Der Weg zum obersten Verfassungsgericht ist weit. Wie bei uns. Das müsste doch bekannt sein. Wer sofort nach dem obersten Gericht schreit, hat die institutionelle demokratische Verfasstheit seines Landes nicht verstanden. Donald J. Trump müsste sich belehren lassen. Dass gestern in der Wahlberichterstattung einige unserer Journalisten und Journalistinnen den Aufschrei des Präsidenten ernst nahmen, statt aufzulachen, ist erstaunlich und spricht für eine institutionelle Unkenntnis. Die ist allerdings bei uns weit verbreitet - was das gern benutzte Adjektiv formaljuristisch belegt.

4.  Die Crux der Meinungsbefragungen. Die Befragungsinstitute legen in der Öffentlichkeit ihre Karten selten auf den Tisch - es gibt kaum Angaben über die Art der Befragung, über die Fragen, Stichproben, Verrechnungsverfahren. So lassen sich von unsereins die Befunde schwer abschätzen. Manchmal werden die Meßfehler-Bereiche angegeben. Man muss ihnen und denen, die darüber berichten, vertrauen. Die U.S.-Befragungsinstitute haben das Ausmaß der Stimmen für den demokratischen Kandidaten offenbar wieder ordentlich prognostiziert; allerdings deren Einfluss überschätzt. Die prognostische Einschätzung ihrer Bedeutung für das electoral college ist enorm kompliziert. 

Meinungsbefragungen haben eine gewisse Reichweite. Das Problem ist, dass die Befragten nicht auf Anhieb im Moment der Befragung präzise und gut erinnerte und gut bedachte Auskünfte geben können. Das geht nur in ausführlichen, mehrstündigen Befragungen, die Gespräche sind und explorativen Charakter haben. Studien mit diesen qualitativen Verfahren sind aufwendig, teuer und schwierig. Sie sind aber das angemessene Verfahren, um herauszubringen, was die U.S.-Wählerschaft mit dem aktuellen Präsidenten verbindet und was andere Wählerschaften bewegt.     

5. Jörg Schönenborn vom WDR war gestern der glänzend informierte Journalist, der virtuos  und geschliffen die Daten der Meinungsbefragungen mit den Wahlergebnissen verknüpfte und nüchtern die Daten vortrug. Was für ein Kontrast zu seinen aufgeregten Kollegen... ich beruhigte  mich und konnte gut schlafen. Chapeau bas für den Mann aus Köln!

 

(Überarbeitung: 5.11.2020) 

(Nachtrag, 24.11.2020: zu Punkt 4. Alles hängt ab von der Aufrichtigkeit der Befragten. Die zu kontrollieren und abzuschätzen ist äußerst schwer, wenn nicht unmöglich bei den standardisierten, telefonischen, hastigen Befragungen. Die U.S.-Amerikaner haben damit offenbar ein Problem. Ambivalenzen, das Vergnügen an der Zerstörung, die Interviewer vortanzen zu lassen, kommen offenbar nicht ausreichend zur Sprache. Wie sieht das bei uns aus? Schweigen. Im sozialwissenschaftlichen privatissimum wird darüber sicher gesprochen.)

 

 



 

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