Montag, 22. September 2014

Politik-Lektüre V: Angela Merkel hatte Geburtstag

Am 17. Juli 2014 feierte Angela Merkel ihren 60. Geburtstag. Kurt Kister, Chefredakteur der SZ, versuchte in der Wochenend-Ausgabe vom 12./13.7.,  sich ihr mit biografischen Skizzen zu nähern (Die Pfarrerstochter, Die Aufsteigerin, Die Anfängerin, Die Ehefrau, Die Frau, Die Handzahme, Die Weltpolitikerin, Die Kanzlerin und Die Spielerin). Seinen Beitrag titelte er mit: "Die Chefin. Wir glauben, sie zu kennen, die Kanzlerin, dabei wissen wir so wenig über sie. Nun wird Angela Merkel 60 - und ist uns noch immer ein Rätsel". Ist sie das? Sie hat zwei exponierte Ämter, deren Aufträge nicht leicht auseinander zuhalten sind: das "Wohl des deutschen Volkes" und den Machterhalt ihrer Partei. Andere Regierungschefs trauen sich das ähnlich zu. Bei uns ist das - erstaunlicherweise - tolerierte Praxis, seitdem die Bundesrepublik besteht. Angela Merkel ist Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende der Christlich-Demokratischen Union. Sie ist in Hamburg geboren, in der ostdeutschen Republik aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat dort ihr Physik-Studium mit einer Promotion abgeschlossen. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet und ist kinderlos. Wo ist das Rätsel?

Das Rätsel ist das Wort für die Not des ausgeschlossenen Journalisten, der sich mit dem Auswerten seiner Beobachtungen zufrieden geben muss - er hat wie wir alle (allerdings mehr oder weniger) keinen eigenen persönlichen Kontakt und keinen eigenen Blick in das Innere des Bundeskanzleramts, das als oberste Bundesbehörde institutionalisiert ist. Das Nachdenken über Angela Merkel überbrückt die Kluft zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten - das Unvertraute der Organisation des Bundeskanzleramtes (die Hierarchien, die Arbeitsaufgaben und Arbeitsabläufe, die Beziehungsgefüge, die Beziehungswünsche, die Gruppierungen, die Verpflichtungen und Loyalitäten) - soll vertraut gemacht werden, indem die Person der Kanzlerin in den Blick genommen wird. Wilhelm Salber, der Kölner emeritierte Psychologie-Professor, nennt das den Prozess der Anverwandlung. Das Fremde - das Aushandeln politischer Absichten, Pläne, Projekte und Positionen und deren Kommunikation - bekommt eine Beziehungsgestalt in der eigenen inneren Welt. Damit haben wir ein Gefühl der Gewissheit - ohne etwas von den Prozessen und deren Strukturen zu wissen. Was wir von Angela Merkels persönlichen Daten wissen, lässt uns die Prozesse und die Strukturen nicht verstehen. Die Amt legt ihre Bewegungen fest. Nicht umgekehrt. Ganz zu schweigen von dem Amt der Parteivorsitzenden. Uns bleibt nichts anderes übrig als ihre Handlungen auf Kontext, Logik und Plausibität zu prüfen. Das reicht. Das psychologisierende Personalisieren verwischt das gravierende Problem unserer Lektüre politischer Prozesse. Der psychoanalytische Vorschlag, die Familienstube als Verständnisfolie für die Wahrnehmung, Beschäftigung und Orientierung in der öffentlichen Diskussion den politischen Prozessen überzustülpen - wenn also die Kanzler-Mutti uns in unserem (vermeintlich) tiefen Abhängigkeitswunsch an die Hand und durch die Welt führt (s. meinen Blog vom 27.8.2013) - , ist die Aufforderung nach innen und damit weg zu schauen. Dabei kommt es sehr darauf an, gut zu beobachten, was läuft.

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