Dienstag, 30. September 2014

Das Krokodil

Seit einiger Zeit plaziert die SZ Forschungsergebnisse auf ihrer ersten Seite. Das kann man nur begrüßen. In ihrer Samstagsausgabe (vom 27./28.9.2014) machte sie aufmerksam auf die hohe Quote schlechter Gutachten zu Fragen des Sorgerechts. Christel Salewski und Stefan Stürmer, Psychologie-Professoren der Fern-Universität Hagen, hatten 116 Gutachten hinsichtlich ihres wissenschaftlich begründeten Vorgehens untersucht; ein Drittel der Gutachten folgte nicht den wissenschaftlichen Verabredungen kontrollierbaren Schlussfolgerns. "Das liegt zum Beispiel an den Krokodilen", schreibt Wolfgang Janisch, Autor des SZ-Textes. Mit dem Krokodil ist das Test-Verfahren "Familie in Tieren" gemeint. Es wurde in den Gutachten unbegründet angewandt und ausgewertet. Fazit: "Der Kern der Kritik (an den Gutachten) lautet", so Wolfgang Janisch, "viele Gutachten sind unwissenschaftlich und damit selbst für Fachleute nicht nachvollziehbar. Oft fehle jegliche Begründung, warum sich die Psychologen für ein Testverfahren entschieden. Stattdessen stützten sie sich auf unsystematische Gespräche und beiläufige Beobachtungen".

Wie immer ist es kompliziert. Natürlich ist das Krokodil eine nette Metapher für das (vermeintlich) haarsträubende Vorgehen mancher Psychologen. Die Gutachterinnen und Gutachter sind Gehilfen des Gerichts: sie müssen es in die Lage versetzen, sich ein angemessenes, eigenes Bild der familiären Konstellation und deren Konfliktdynamik machen zu können. Das setzt einen gut begründeten, ausführlichen Gutachten-Text voraus. Gutachten werden häufig in der so genannten Nebentätigkeit erarbeitet und verfasst. Ausführliche Gutachten brauchen Zeit und sind teuer. Die Gerichte stehen unter Zeit- und Kostendruck. Die Qualität der Gutachten zu prüfen und sie gegebenenfalls zurückzuweisen, gehört - verständlicherweise - nicht zu deren Praxis: s. Zeit- und Kostendruck. Sie müssen der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Fachleute vertrauen. Deren wissenschaftliche Ausbildung ist das weitere Problem: die Wissenschaftlichkeit des Faches Psychologie ist umstritten. Gegenwärtig zählen vor allem die mit quantitativen Verfahren (vornehmlich mit Korrelationsstudien) erhobenen Befunde; die  Pauperisierung psychologischer Konzepte ist hier schon angemerkt worden (s. meinen Blog vom 18.8.2014); noch immer existieren mehr oder weniger elaborierte Variationen der Theorie vom Reiz und den Reaktionen - was heute meistens als Neurowissenschaft durchgeht, ist die Anstrengung der Bestimmung der Frequenzen und der Lokalisierung der Erregungsleitungen und der mit ihnen verbundenen Strukturen (Verschaltungen, Synapsen) und Transmitter (Botenstoffe, wobei niemand weiß, welche Botschaften vermittelt werden) von vermuteten Motiven, die nach dem Modell der Abfolge von Reiz und Reaktion funktionieren. Ein Forum systematischer, regelmäßiger Kritik der Gutachten existiert nicht (soweit ich sehe). Der Hinweis auf den Misstand (s. auch den Fall Mollath) genügt nicht.    

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