Dienstag, 30. September 2014

Politik-Lektüre VI: Das Bild des Zauderers

Im Latein-Unterricht hatten wir den cunctator - den Mann des Zögerns und Zauderns. Cunctator war für mich die Vokabel mit der abfälligen Konnotation. Glücklicherweise weiß es Wikipedia , wie so oft, besser. Quintus Fabius Maximus Verrucosus Cunctator war kein Zauderer, sondern der Erfinder der Guerilla-Taktik, allerdings, worauf das Wort verrucosus hinweist, ein offenbar entstellter Mann mit vielen Warzen. Der cunctator wird hier und da von der Redaktion der SZ benutzt, um die Politik des U.S.-Präsidenten zu kennzeichnen. Das letzte Mal war es in der letzten Wochenenend-Ausgabe (vom 27./28.9.2014), als auf der ersten Seite der Kommentar von Nicolas Richter angekündigt wurde mit den Worten: "Der Zauderer Obama hat sich korrigiert: Amerika tritt wieder als Ordnungsmacht auf".

Nicolas Richter beginnt seinen Kommentar (auf S. 4) wie folgt:
"Eine Zeit lang hat Amerika versucht, Deutschland zu sein. Die Amerikaner haben Arbeitsplätze geschaffen, ihre Autobahn geteert und die Welt mehr als Geschäftsfeld bearbeitet denn als Schlachtfeld. Bundeskanzler Obama überlegte hin und wieder, einen Diktator zu bestrafen, ließ es aber doch bleiben, weil das Parlament nicht wollte und er eigentlich selbst keine Lust hatte".

Nicolas Richters Tonfall ist flapsig, spaßig und von oben herab. "Die Weltmacht kehrt zurück", schreibt er weiter, "aber sie hat sich verändert, sie ist schlanker und nüchterner und realistischer. Obamas Amerika ist  deutscher geworden: Es geht weniger Risiken ein, sichert sich mehr bei Verbündeten ab und zählt öfter sein Geld. Obama erkennt jetzt zwar deutlich an, dass die USA als Hüter einer globalen Mindestordnung unentbehrlich sind, er möchte aber Verantwortung und Kosten nicht allein tragen". Ist Amerika deutscher geworden? Abgesehen davon, dass mit Amerika die Politik der U.S.-Regierung gemeint ist - wollen wir das nicht hoffen: angesichts unserer Regierung, die stets aufs neue überrascht und gelähmt wird von dieser oder jener dysfunktionalen Wirklichkeit und deren oberste Repräsentanten sich offenbar ungern im Parlament aufhalten. Ein Bundeskanzler, der nachdenkt, weil er die politischen Komplexitäten wahrnimmt,  sich beraten lässt und sich abstimmt, wäre doch nicht schlecht. Aber die Verniedlichung des U.S.-Präsidenten auf bundesdeutsches Niveau stellt die Dinge auf den Kopf. Ob Nicolas Richter uns beruhigen will? Angesichts der enorm zerstrittenen europäischen Regierungen? Deren Gemeinsamkeiten zerfasern oder zu zerfasern drohen? Die sich nicht verständigen können auf eine einheitliche Politik?

Nicolas Richters letzte Sätze:
"Statt also einen Sieg über das 'Netzwerk des Todes' zu verheißen, sollte Obama seinem Volk und der Welt ehrlicherweise sagen, dass man noch lange keine 'Mission erfüllt'-Banner ausrollen wird, vielleicht auch nie. Es würde ausdrücken, was Obama ohnehin glaubt und was die Rückkehr Amerikas im Kern definiert: Eine Supermacht, die es bleiben möchte, erkennt, dass sie mächtig, nicht super ist". So einfach ist es nicht. Nach 1945 gelang den Alliierten eine fragile, hoch konfliktuöse Ordnung in Europa mit der äußerst prekären Politik der gegenseitigen Abschreckung - das war offenbar, trotz aller Komplikationen, ein enormer (einmaliger) Glücksfall -  ; seit 1989 existiert trägt sie nicht mehr. Ist unsere Regierung damit ausreichend beschäftigt?      

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