Dienstag, 14. April 2015

Konfuser Wissenschaftsjournalismus

Gestern, stelle ich mir vor, hatte die Redaktion der Süddeutschen Zeitung einen schweren Tag. Der Tod von Günter Grass warf einen langen Schatten. Nur so kann ich mir erklären, dass unter der Todesmeldung des Autors ein Text auf die erste Seite geriet, der dort nichts - für meinen Geschmack - zu suchen hatte. Hanno Charisius ist der Autor von "Sein und Schein. Wie Menschen auf Placebos reagieren, liegt auch an ihren Genen"(14.4.2015, S. 1). Was der Titel behauptet, soll erst untersucht werden. Im vorletzten Absatz heißt es: "Die Harvard-Forscher wollen deshalb das 'Placebom' entschlüsseln. Damit meinen sie alle Erbanlagen im menschlichen Erbgut, die irgendetwas mit der Entstehung des Placeboeffektes zu tun haben".

Zuvor hatte Hanno Charisius geschrieben: "Lange Zeit wurde der Placeboeffekt allein der Vorstellungskraft des Menschen zugeschrieben". Abgesehen vom falsch platzierten Adverb allein: was stellt ein Patient oder eine Patientin sich vor, der oder die ein Präparat ohne Wirkstoffe verschrieben bekommt, von dem er oder sie erwartet, dass es eine Wirkung hat? Eine Vorstellung ist ein kognitiver Akt, eine Erwartung die Evokation eines Affekts, der zu einer (wahrscheinlich guten) Beziehungserfahrung gehört. Wenig später nennt Hanno Charisius das: Einbildung. Bilde ich mir etwas ein, wenn ich mich an den Affekt einer bestimmten Beziehungserfahrung (mehr oder weniger präzis) erinnere? Nein, normalerweise nicht; es sei denn, ich wäre dabei, meine Erinnerungen umzuarbeiten. An phänomenologischer Präzision ist Hanno Charisius desinteressiert. Er betreibt das seltsame Geschäft der Diskreditierung und der Austreibung des seelischen (interaktiven) Geschehens zugunsten der sehr seltsamen Frage nach der genetischen Ausstattung für den Beziehungs-Prozess, ein Zutrauen in das von einer Ärztin oder einem Arzt empfohlene Präparat zu entwickeln. Das Zutrauen, das weiß man von der Forschung, schwankt. Dafür die jeweilige Individualität verantwortlich zu machen, ist sicherlich zu einfach gedacht, weil damit der aktuelle Beziehungskontext zu einer (mehr oder weniger) fremden Ärztin oder einem (mehr oder weniger) fremden Arzt ausgeschlossen wird (s. meinen Blog vom 23.9.2014).

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