Mittwoch, 29. Juli 2015

When the shit hits the fan...

... dann reicht der Schlamassel einem mindestens bis zum Hals. Aus dem U.S.-Kino wissen wir: der Ventilator ist an der Decke befestigt. Das nordamerikanische Englisch weist eine Fülle sehr robuster Formeln auf. Die Scheiße, in der man steckt, ist eine äußerst missliche Lage. Das sagt man bei uns allerdings selten. Gebräuchlich ist der Fehler, den man gemacht hat - und deshalb nicht so schlimm ist. Ich habe Scheiße gebaut, sagt der, der weiß und nicht versucht, sich herauszureden: das lässt sich so einfach nicht reparieren. Scheiße ist eher die Vokabel für den inneren Dialog, wenn man beginnt, mit sich, über sich und über die Welt zu fluchen. Shit ist eine nordamerikanische Vokabel, die in vielen Verbindungen kommuniziert wird. Das Oxford English Dictionary listet sie, druckt man sie aus, auf 20 DIN-A-Seiten auf. Dort findet man den Shitstorm, den man übersetzen kann mit der mächtigen Patsche oder dem riesigen Schlamassel, in die oder in den man irgendwie reingeraten ist.

Übersetzungen sind schwierig. Der shitstorm kann in der Situation eines Schusswechsels oder in der Situation der Folgen der Entdeckung bestehen, dass eine prominente Persönlichkeit ein privates Leben führt, das seinem öffentlichen Leben sehr widerspricht.  Interessant ist, dass der shitstorm - von Norman Mailer in seinem Roman Naked & Dead zum ersten Mal zu Papier gebracht (dort auf S. 62 - sagt das Oxford English Dictionary) - in unserem Sprachgebrauch ausschließlich dazu benutzt wird, die Folgen einer vielfachen, raschen, robusten bis sehr rüden Internet-Kommunikation zu beschreiben, mit der eine - zumeist - prominente Person behelligt wird. Anders als die nordamerikanische Vokabel deutet der bundesdeutsche Sprachgebrauch des shitstorm den Subtext einer projektiven Interaktion der Verfolgung an: Viele stürzen sich auf Einen - aus einem unverständlichen oder böswillig verstandenen Anlass, bei dem aus der sprichwörtlichen Mücke ein Elephant gemacht wird. Wer sich im shitstorm sieht oder jemanden darin vermutet, macht den Vorwurf unangemessener Adressierung.

Ein Beispiel. Dieter Nuhr in seinem Beitrag Wir leben im digitalen Mittelalter (F.A.Z., 17.7.2015, S. 15): "Für den digital Unbedarften sei erklärt: Ein Shitstorm ist ein Massenauflauf, der zum Ziel hat, den Andersmeinenden durch massenhaften Bewurf mit verbalen Exkrementen mundtot zu machen". Auf seinen Scherz, das griechische Referendum mit einer Abstimmung in seiner Familie, das Darlehen für das Haus nicht weiter zu tilgen, zu vergleichen, hatte er auf seinem Internet-account, wie er schreibt, "zahlreiche Beleidigungen, Beschimpfungen und Bedrohungen" vorgefunden. Dieter Nuhr hat diese Einträge gelöscht; das Spektrum der Beiträge lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Zivilisierte Kommunikationen sind die Voraussetzung für Kommunikationen. Das Problem von Internet-Foren ist die Diffusität ihrer Rahmen, die Anonymität, wechselnde Teilnehmerschaft, Unklarheit der kommunikativen Beteiligung - was sich sonst nur in einem stabilen, deshalb intimen Rahmen (einer Psychotherapie beispielsweise), der Verschwiegenheit und deshalb Offenheit garantiert, sagen lässt, wird jetzt in den unübersehbaren Foren mit unübersehbar unbekannten Teilnehmern gesagt. Gleichzeitig ist unsere Gesetzeslage klar; die Würde des Menschen ist geschützt vor systematischer Beschämung oder Kränkung. Ob Dieter Nuhr Rechtsmittel bemüht, ist mir nicht bekannt.

Aber auf einen Punkt möchte ich aufmerksam machen. In Dieter Nuhrs Definition steckt die Lesart des von einem Internet-Forum ermöglichten shitstorm zu seinem Beitrag:  als Aufruf zum Pogrom. Damit werden alle Beiträge auf seinen account disqualifiziert; die bescheidene Qualität des eigenen Beitrags blendet er aus. Die Lesart des Pogroms ist eine Verdrehung und ein Verquirlen unserer historischen Kontexte. Pogrome sind bei uns nicht möglich. Es gibt allerdings zahlreiche Gewalttaten, die offenbar von projektiv adressierten Aggressivitäten motiviert sind; inwieweit und ob mörderische Fantasien oder mörderische Intentionen sie organisieren, wissen wir nicht.

In welche Kontexte gehört Dieter Nuhrs Beitrag?
1. Zu den Erzählungen apokalyptischer Befürchtungen. Bedroht sind die gängigen Foren gedruckter oder elektronisch verbreiteter öffentlicher Diskussionen. Deshalb journalistische Schutzversuche zur Behauptung der Markt-Macht. So wurde Markus Lanz bei seiner öffentlichen Rauferei geschützt - für die er sich entschuldigte (s. meine Blogs vom 30.1.2014 und 6.10.2014).
2. Die Verachtung der Massenmedien. Masse hat bei uns eine schlechte Konnotation. In einer Masse kann nur Regression und Entdifferenzierung statt finden. Diese Einschätzung und Lesart haben eine alte Geschichte. Der mörderische nationalsozialistische Aufruhr scheint ein Beleg dafür zu sein - wobei der Aufruhr möglich wurde in der willkürlich regierten, von illegitimen Gesetzen flankierten und von Größenphantasien entdifferenzierten, nationalsozialistischen Gesellschaft. Inzwischen leben wir seit 1949 in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Das Versprechen des Internets nach demokratisch orientierter Teilhabe hat sich erfüllt. Jeder Fortschritt ist nicht nur ein Fortschritt. Inzwischen kennen wir den realen Preis der automobilen Demokratisierung der Kutsche.
3. Die Diskriminierung der jüngeren und nicht mehr so jungen Generationen, die in den Internet-Foren ihre Formen des enorm effektiven Austauschs gefunden haben. Die Internet-Aufregungen, die Markus Lanz's Verhalten in der Z.D.F.-Rederunde und das rührselige PR-Ritual mit der Bundeskanzlerin, die von einer Teilnehmerin überrascht wurde, thematisierten, lassen sich auch als Schutz- und Rettungs-Versuche der exponierten Protagonistinnen verstehen. Sie lassen sich weiter verstehen als Aufschrei nach Gerechtigkeit, Fairness und  Redlichkeit - trotz der Lautstärke. Man darf den Lärm nicht mit dem Wunsch nach Inklusion und Teilhabe verwechseln.
4. die Verachtung der Verständnissuche der Internet-Beiträge und deren Differenzierung. Auch empörte, aufgebrachte, rüde oder robuste Beiträge sagen ihre Wahrheiten. Selbstgerechtigkeit ist auch ein Schutz-Versuch: das Sich-Einstimmen auf einen Konsensus als Teilhabe und Selbstvergewisserung.  Das Problem ist das Sekunden-schnelle Sortieren der Guten ins Töpfchen und der Schlechten ins Kröpfchen als das Problem der medial geförderten Reduktion von Komplexität. Das Problem ist die ebenfalls medial verbreitete Trivialisierung und Entdifferenzierung von Beschreibungen und Begriffen. Der Hass ist zu einem Wort verflüssigter, verdünnter Bedeutung geworden: es gibt das Hass-Fach in der Schule, es gibt die Hass-Figur  (Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in der F.A.S. vom 19.7.2015, S. 21). Es gibt den Wut-Raum (s. meinen Blog vom 28.7.2015). Die Angst vor starken Affekten und heftigen Auseinandersetzungen ist groß. Wer weiß, was bei uns noch auf den Tisch kommt.

(Überarbeitung: 27.2.2019)

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