Montag, 27. Juli 2015

Zur Alltagspsychologie: "Wut rauslassen"

Zum Missverständnis von Psychotherapie gehört das vermeintlich kurative Ausspucken eigener Affekte. Lass es raus!, heißt es dann. Ich kann nur empfehlen: Lassen Sie es drin! In den 60er Jahren konnte man  noch in der Pariser Métro lesen: ne pas cracher. Aus gutem Grund: Spucken ist eine Verletzung zivilisierter Umgangsformen; das Vergnügen an der Verletzung des Takts. Leider ist das Spucken auf dem Fußballplatz noch nicht verpönt - schwer arbeitenden, mächtig verschwitzten Männern wird die Macht über die kurzfristige, taktlose Entlastung zugestanden: wer schuftet, darf spucken. Spucken die Frauen beim Fußball eigentlich auch?

In der F.A.Z.  (vom 18.7.2015) wurde von Ursula Scheer das Experiment beschrieben und gepriesen, sich per Rauslassen seiner Rage zu entledigen. "Heute schlage ich einmal alles kurz und klein", heißt der Titel des Textes; der Untertitel: "Was einem im eigenen Büro versagt bleibt, lässt sich im 'Wutraum' mit ein paar kräftigen Schlägen erledigen: Hier wird man aufgestaute Aggression los. Das ist ganz schön anstrengend. Doch lohnt es sich auch? Ein Selbstversuch". Ein Mann namens Hartmut Mersch stellt einen Raum mit Mobiliar zur Verfügung, das mit einem Baseballschläger zerdeppert werden kann. Die theoretische Idee dazu: der Wut-Affekt ist eine Art Energie-Quantum, das irgendwie abgeführt werden muss. Den Schleim spucke ich aus, und den Urin scheide ich aus - in einem intimen, geschützten Raum. Das geht. Aber einen Affekt? Der ist im Fall einer Wut oder Rage ein äußerst quälendes Gefühl - und dieses Gefühl, kein Quantum, ist in einer Beziehung entstanden (durch eine Kränkung oder eine Beschämung vielleicht), weshalb das Gefühl in diese Beziehung gehört und dort verhandelt werden muss. Der Ärger auf den Chef verfliegt nicht, wenn ich das Büro demoliere: der Chef bleibt unbehelligt. Aber mit ihm muss ich meinen Ärger austragen - das stärkt und entlastet und hilft. Das Demolieren im "Wutraum" erschöpft die Demoliererin, aber moduliert ihren Affekt nicht.

Was schrieb Ursula Scheer über ihren Selbstversuch?
"Davon, alles zu Kleinholz verarbeitet zu haben, bin ich weit entfernt. Aber alles ist demoliert. Unbrauchbar. Kaputt. Schrott. Reicht doch. Am nächsten Tag werde ich Muskelkater haben. Aber die Nackenverspannung, die ich in die Wutkammer mitgebracht habe, die ist weg". Sie wird sich wahrscheinlich wieder einstellen.

Erstaunlich, welch' schlichte Psychologie im Feuilleton der F.A.Z. verkauft wird. Ursula Scheer wirkt nicht überzeugt von ihrem eigenen Text. Eine seltsame Akrobatik im Wutraum und vorm Rechner beim Schreiben. Der erste April ist weit entfernt, das Abonnement dieser Zeitung läuft erst seit kurzem.


(Überarbeitung: 28. und 30.7.2015)  

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