Donnerstag, 29. Oktober 2015

P.E.g.I.d.A-Lektüre I: wie ein Affekt zum veröffentlichten Befund und somit wahr wird

Der mediale Kreislauf um die und mit der zum Akronym und zur Metapher gewordenen Großgruppe, die sich an Montagsabenden in Dresden trifft, setzt sich fort. Medial beobachtet, kommentiert, verurteilt und behauptet, ist die Gruppierung zu einer Realität geworden, die viele Bundesdeutsche beschäftigt (wie viele, wissen wir nicht; in welchen affektiven und kognitiven Kontexten, wissen wir auch nicht).

Es gibt viele Deutungsversuche - mein Blog ist auch einer (s. meine Texte vom 23.12. und 25.12.2014). Heute interessiert mich ein Aspekt des medialen Kreislaufs. Am 19.10.2015 veröffentlichte Stefan Locke in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (S. 3, Nr. 242) den Text mit dem Titel Die unerträgliche Seichtigkeit des Seins. Warum es bei Pegida nicht nur um eine Angst vor Überfremdung geht - sondern um ein grundsätliches Misstrauen gegen das demokratische System. Der Titel des Textes spielt mit dem Titel des Romans von Milan Kundera Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Wieso das Sein auf einmal so  seicht  sein soll, sagt Stefan Locke nicht. Möglich, dass er die Dresdner Großgruppe und deren Kommunikationen für seicht hält. Sollte das der Fall sein, bewegt er sich unvorsichtig auf schwierigem Terrain wie unser Justizminister Heiko Maas, der mit Sieben-Meilen-Stiefeln in der Öffentlichkeit auftritt.

Es geht um Dresden, um Sachsen - der Ruf Sachsens sei im Eimer, wird Michael Kretschmer, der Generalsekretär der C.D.U. zitiert - und um Frank Richter, den Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der  mit dieser Selbst-Einschätzung zitiert wird: "Ich habe das Gefühl für diese Stadt verloren". Er weiß nicht mehr, kann man diesen Satz übersetzen, ob und inwieweit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Montags-Großgruppe repräsentativ sind für die Bürgerschaft Dresdens. Er ist verunsichert. Er ist ernüchtert. Ihn hat, so erzählt Stefan Locke, der Eindruck von Rupert Neudeck, mit dem er  "eine der ersten Pegida-Kundgebungen" beobachtet hatte, offenbar beunruhigt:

"Sie sahen Transparente, Deutschlandfahnen und gut tausend Menschen, die an ausgetreckten Armen mit den Bildschirmen ihrer Mobiltelefone den Himmel beleuchteten. Das seien ja Rituale wie den Nazis, habe Neudeck spotan gesagt. Die gleichen Bilder, die gleichen Symbole, der gleiche verhängnisvolle Irrtum wie damals, dass sich sozialer Zusammenhalt nur national organisieren ließe. Ihn habe das tief beeindruckt, sagte Richter, auch weil Neudeck die Nazizeit selbst erlebt hat".

Es ist die Frage, ob Rupert Neudeck als verlässlicher  Zeitzeuge in Frage kommt. Er wurde am 14. Mai 1939 geboren - knapp vier Monate bevor die nationalsozialistische Regierung ihre destruktive Orgie beschleunigte. Die Frage ist: was sah Rupert Neudeck? Mobile Telefone gab es nicht; Fackeln waren beliebt. Wo sah  er die Fakeln? Möglicherweise im Kino, wo Dokumentarfilme, deren Autoren durchweg das propagandistisch intendierte Material in ihre Narrative hineinmontiert hatten, liefen - abgesehen von dem schwer erträglichen idolisierenden Schinken wie der Leni Riefenstahl  Triumph des Willens, der nicht in den Kinos gezeigt werden durfte. Oder er hatte davon gehört oder gelesen. Wahrscheinlich hatte Rupert Neudeck seinen Affekt einer Befürchtung ausgesprochen: dass ein ähnlicher Auflauf wie die früheren Fackelzügen sich in Bewegung setzen könnte. Frank Richter nahm offenbar die Kommunikation dieses Affekts als die Beschreibung eines Vorgangs auf, der nationalsozialistische Züge zu tragen scheint. Es ist klar, dass die ungeklärte Befürchtung Folgen hat: je nach Lebensgeschichte beunruhigt, irritiert oder alamiert sie. Einmal im Kopf, bewegt sie sich weiter.

Einmal im Kopf bestätigte sie die alten, seit 1949 kursierenden, bundesdeutschen Kontexte weit verbreiteter Befürchtungen. Da dieser Prozess der Belebung von Befürchtungen in vielen Köpfen stattfindet (wir wissen nicht, in vielen), organisiert er eine medial kommunizierte Fantasie, die beispielsweise abends in den Tagesthemen zu einer Nachricht wird, die überprüft  wird. Allerdings wird sie mit den einfachen Mitteln überprüft, die wir kennen: ein TV-Team kommt und jemand hält jemanden ein Mikrofon entgegen - und der bestreitet die Befürchtung, wodurch sie nicht widerlegt, sondern bestätigt wird. Diese Art von Befragung - eine Invasion, kein Gespräch - kalkuliert ihren Macht-Charakter nicht ein: wer kann schon vor einer Kamera in einem Satz präzise Auskunft über sich geben? Undsoweiter, undsofort. Der Kreislauf von Behauptung, Dementi, Vorwurf und Gegenvorwurf, Dementi läuft. Bis unsere Kanzlerin vom Hass im Herzen und unser Justizminister von der Schande  sprechen und empfehlen, diese Art von Meinungsäußerung zu meiden. Aber die, die sich montags in Dresden im Kontext ihrer Gruppe mit ihrer Teilnahme äußern, fühlten sich durch den Rahmen unserer demokratisch verfassten Gesellschaft eingeladen, sich so zu äußern.  

Seichte Meinungsäußerungen sind erlaubt. Davon abgesehen, sind sie gar nicht seicht. Sie müssen gehört werden. Sie müssen diskutiert werden. Unterdrücken, Disqualifizieren, Verbieten helfen nicht: das wurde seit 1949 versucht. Es ist erstaunlich, wie defensiv unser Justizminister argumentiert. Wer mitläuft, senkt Hemmschwellen, sagte er - berichtete am 20.10.2015 auf ihrer ersten Seite die  Frankfurter Allgemeine Zeitung. Dort wird er mit dem Satz zitiert: "Wer Galgen und Hitlerbärtchen hinterläuft, für den gelten keine Ausreden mehr". Wenn ich die Fernseh-Bilder richtig erinnere, dann bewegte sich eine Menge Leute vor diesen Bildern: was war mit ihnen?

Die Hemmschwelle gehört in den Kontext kursierender Befürchtungen. Die Formel von der Straftat mit fremdenfeindlichem Hintergrund  ist die Behauptung der Vermutung einer Kausalität, die nicht geklärt ist. Das Konzept der Fremdenfeindlichkeit ist nicht geklärt: in welchen symbolischen, kommunikativen und interaktiven Kontexten ist es Handlungs-leitend? Klärende Forschung wäre nicht schlecht.

(Überarbeitung: 29.2.2016)

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