Dienstag, 19. Juni 2018

Radfahren in Leiden, Niederlande - die andere Mobilitätskultur

Als bundesdeutscher Autofahrer im niederländischen Leiden hat man es nicht einfach: Radfahrerinnen und Radfahrer schießen aus allen Richtungen auf einen zu - nur nicht von oben -: ein enormes Gewusel, wenn man unseren übersichtlich reglementierten Verkehr gewohnt ist.

Jetzt wechsele ich die Perspektive. Ich sitze an einer Kreuzung, durch die drei Straßen ziehen, trinke meinen Espresso und beobachte den Verkehr.

Das Gewusel, ging mir auf, ist kein Durcheinander, sondern ein elastisches System. Es gab virtuose, nicht so virtuose und etwas wackelig fahrende Radler - und dazwischen jede Menge anderer Rad-Künstler. Ich sah den jungen Radfahrer, der durch eine einen Meter große Lücke zwischen anderen Radfahrer blitzartig fuhr - von Ferne halsbrecherisch, aber exakt abgestimmt: früher oder später wäre die Lücke nicht vorhanden gewesen. Ich war begeistert: die hohe Kunst des Alltags. Das war die Spitzenleistung. Natürlich gab es weniger virtuose Rad-Piloten. Was mir auffiel: es gibt einen fließenden Rhythmus. Die Bewegungen des Radfahrens sind aufeinander abgestimmt. Die Radfahrerinnen und Radfahrer interagieren und geben sich Platz: sie geben nach, sie weichen aus, sie stellen sich aufeinander ein.

In der guten halben Stunden bremste ein Radfahrer ab und stoppte. Es wäre sonst eng geworden.  Unfälle sind selten, habe ich mir sagen lassen. Obgleich viele ihr Rad schnell bewegen.

Worum geht es in diesem System des Radfahrens? Um Kooperation und Versicherung der eigenen Virtuosität und des eigenen Könnens. Drei balancierten einen Bierkasten auf dem Lenker. Ein Mitfahrer (dieses Beispiel wurde mir erzählt) saß auf dem Gepäckträger und zog links und rechts einen Rimowa-Koffer mit. Ich habe kein Klingeln gehört. Tatsächlich haben viele keine Klingel. Sie ist nicht nötig. Niemand soll Platz machen. Die fremden Räume werden respektiert. Das Vergnügen der Freiheit wird gelebt. Fahrradfahren als Vehikel zum Aufleben, zum Pflegen einer Geselligkeit, zur Bestätigung einer Kultur des Praktischen.

Und worum geht es bei uns? Um Macht und Dominanz. Die Fahrradklingel läutet das bei uns ein. Am besten springt man zur Seite. Das ist nicht immer, aber häufig so.

Was sagt uns das? Eine andere Mobilität kriegen wir nicht etabliert, wenn wir keine andere Kultur entwickeln. Dieser Prozess dauert Generationen. Aber anfangen müssen wir, die Kultur der  Herrschaft und das Auftreten der schweren Blechkisten zu stutzen.

(Überarbeitung: 6.7.2018) 

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