Freitag, 16. Mai 2014

Angst-Inflation

"Fürchtet euch nicht", lautet der Titel des Textes von Christian Weber in der heutigen SZ (16.5.2014, S. 11, Nr. 112), der Untertitel: "Neue Empfehlungen zur Behandlungen von Angststörungen". Was man den beiden Überschriften entnehmen kann: Christian Weber macht keinen Unterschied zwischen Angst und Furcht; er kennt die phänomenologische Differenz nicht, die darin besteht, dass bei der Furcht die Quelle der Gefahr bekannt ist, bei der Angst nicht - weshalb man jemanden, der Angst verspürt, nicht zu fragen braucht: Wovor?

Die ersten drei Sätze des Textes:
"Eigentlich ist die Angst eine sinnvolle Sache - schließlich kann sie einem das Leben retten. Doch gar nicht selten entgleist diese Reaktion. Betroffene habe eine übertriebene oder grundlose Angst, manchmal wissen sie gar nicht wovor".

Eine übertriebene oder gar grundlose Angst gibt es nicht; wer Angst empfindet, hat einen Grund; er kennt ihn nicht. Auf gut Kölsch heißt das: von nix kütt nix. Übertrieben oder grundlos impliziert eine Zuschreibung von realer Normalität und irrealer Abweichung. Leider hat Sigmund Freud mit seiner Unterscheidung von Real-Angst und neurotischer Angst viel Verwirrung gestiftet. Natürlich ist seine neurotische Angst auch real; das hätte er nicht bestritten. Die Unterscheidung von Angst und Furcht hätte ihm geholfen. Er versuchte zu unterscheiden mit seinem Konzept der Signal-Angst zwischen einer äußeren und einer inneren Gefahr - und natürlich ist die innere Gefahr deshalb schrecklich, weil sie als ein vages Gefühl von milder bis äußerster Bedrohtheit  eher überwältigt (was nicht ausschließt, dass eine äußere Gefahr ebenfalls überwältigen kann). Freud verhedderte sich in seiner Metaphysik einer Innen-Außen-Unterscheidung; denn wie man eine so genannte äußere Gefahr einschätzt und ihr entgegentritt, hängt von der eigenen lebensgeschichtlich gewachsenen Disposition ab, seelische Not regulieren zu können. Innen und Außen stellen (bestenfalls) eine Metapher seelischer Bewegungen dar; sie sind eine Art kommunikativer Kurzschrift.

Angst ist, wenn wir die phänomenologische Philosophie ernst nehmen, eine komplexe Regulationsform unserer existenziellen Bewegungen. Angst verweist auf nicht gelungene, nicht ausreichend regulierte Lebenskontexte. Sigmund Freud hatte diesen Gedanken für das Gelingen und Misslingen von Träumen systematisiert: der Albtraum ist ein gescheitertes Narrativ, das unsere Lebensnöte nicht zu gestalten imstande ist, weswegen wir alarmiert aufwachen. Was wir nachts leisten müssen, müssen wir auch am Tage können. Die Idee unbewusster Lebenskontexte ist, dass sie ständig mitlaufen - wie auch immer funktional oder dysfunktional reguliert.

Was heißt das für die Psychotherapie so genannter Angststörungen? Die ängstigenden Lebenskontexte müssen in einer therapeutischen Begegnung decodiert, identifiziert und durchgesprochen  werden. Natürlich soll man zuerst mit Psychopharmaka die Not erträglich halten und das Leid der schrecklichen Alarmiertheit lindern. Aber (vermeintliche) Psychotherapien des Schulterklopfens - wird schon, gib dir einen Ruck - oder der so genannten Exposition - ich nehme dich an die Hand und wir gehen durch die ängstigende Situation - oder des Sortierens von Angemessen oder Unangemessen - du quälst dich mit zu vielen Selbst-Zweifeln -  helfen wenig oder gar nicht (langfristig), weil die relevanten existenziellen Lebenskontexte nicht durchgesprochen und geklärt werden, sondern im Kontakt mit dem Verhaltenstherapeuten (vorläufig) beruhigt werden. Weshalb sich wie bei den Vorsorge-Untersuchungen wunderbare, weil ertragreiche Schleifen langfristiger Visiten ergeben. Beim Schlafen - in der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, heißt es im Schlager - sind wir allein und uns ausgeliefert und müssen darauf vertrauen, dass unser Traum uns durch den Schlaf schaukelt. Im Schlaf sind wir mit unseren existenziellen Nöten allein. Am Tag auch. Es gibt keinen einfachen Umgang mit dem eigenen Leben. Die Behandlung von Angststörungen ist die Formel für ein, sagen wir, die Not der Angst beschwichtigendes Versprechen.

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