Donnerstag, 15. Mai 2014

Talkshow-Politik

Die englische Vokabel talkshow lässt sich nicht übersetzen. Das ist mir gestern noch einmal klar geworden, als ich in der A.R.D. die Sendung Anne Will schaute - nach den Tagesthemen um 22.45 Uhr. Anne Will heißt die Sendung, die Protagonistin der Sendung und die Geschäftsführerin der Firma  Will Media GmbH, die die Sendung in Berlin herstellt, mit 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Let's talk, sagt man im Amerikanischen (normalerweise), wenn man etwas Ernstes besprechen muss; die show dagegen zwinkert einem zu: so ernst ist es nicht gemeint - zumindest nicht für das Publikum, wohl für die oder den, die oder den die show packt zum Vergnügen der Unbeteiligten. Bei uns ist es besonders ernst gemeint: für die Beteiligten und die weniger Beteiligten, die im Studio zuschauen, während sich das Fernseh-Publikum vor dem Gerät zurücklehnen kann.

Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten war das explizite Thema - das, so Anne Will, "unser Leben erheblich verändern könnte zum Guten oder zum Schlechten". Sie wollte, versprach sie, "ein bisschen genauer hinschauen". Es wurde ein bisschen weniger als ein bisschen. Zuerst machte sie Stimmung: "Wehe, wenn die Chlor-Hähnchen über den Atlantik schwappen". Dann fragte sie die Positionen ab: Martin Riechenberger, der neulich in der SZ zu seiner Arbeit als Chef der erfolgreichen U.S.-Firma (die Geräte für die Landwirtschaft herstellt wie z.B. Trecker) befragt worden war, votierte für ein Abwägen der Vor- und Nachteile; Pia Eberhard betonte die Nachteile; Thomas Strobel, stellvertretender Vorsitzender der CDU, betonte die Vorteile;  Bärbel Höhn kritisierte die Aufnahme der Verhandlungen und warnte vor weiteren Verhandlungen; Martin Schulz versprach, sich von den Nordamerikanern nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Sie waren sich einig in der Notwendigkeit, die vernünftigen europäischen Standards zu behaupten. Sie waren sich uneinig im Affekt der Besorgnis. Diskutable Daten wurden nicht erörtert. Pia Eberhard trug Daten (zur Preis- und Lohnentwicklung in Südamerika nach einem Handelsabkommen) vor, die Martin Riechenberger bestritt. Impasse.

Etwas fand ich (im Nachhinein) seltsam: die Intransparenz der Strukturen und damit die Politik dieser Sendung. Wenn wir über Big Data und deren Machtverhältnisse alarmiert sind, wieso gehen die Machtverhältnisse vor unseren Augen wie selbstverständlich durch?  1. Ein Gespräch wird versprochen, aber ein Forum inszeniert. Wie will man mit einem Publikum im Rücken, das sofort mit seinem Klatschen Partei ergreift, einen klaren Gedanken fassen? Ein Gespräch als eine Interaktion des Gebens und Nehmens sollte einen Raum für Nachdenklichkeit zur Verfügung stellen, aber keinen Prüfstand bedeuten. Mit anderen Worten: diese Sendung war am talk desinteressiert. 2. Wie die Redaktion und der Sender zu diesem Thema kamen oder sich darauf verständigten, war unklar. 3. Nach welchen Gesichtspunkten Pia Eberhard, Bärbel Höhn, Martin Riechenberger, Martin Schulz und Thomas Strobel ausgesucht und eingeladen wurden, war unklar. 4. Unklar war, wer eingeladen wurde, aber absagte. 5. Unklar war, weshalb Anne Will von Anfang an die Position des aversiven Affekts einnahm. Wehe, wenn ich auf das Ende sehe, das mit Max und Moritz ging - die übrigens der Witwe Bolte die Hähnchen vom Herd stahlen... oder waren es Hühnchen? Der Tonfall des Schwappens schwappte durch die Sendung. Es ging um den Angst-Affekt. So betrieb Anne Will ihr Geschäft. Es ging nicht ums Abwägen und Klären von Argumenten, sondern ums Einstimmen in diesen kursierenden Affekt. Diese show - keine Rederunde oder  Gesprächsrunde - diente der Angst-Regulation und der Selbst-Vergewisserung im Dienste der Will Media GmbH.

     

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