Montag, 17. Juni 2019

Noch einmal Harvard, Boston, U.S.A. : 75 Prozent der in der F.A.Z. abgedruckten Leserbriefe verteidigen das Gemerkel

Angela Merkel hielt in Harvard, Boston, die alljährliche Rede zur Feier der akademischen Abschlüsse und zur Entlassung der Hochschulabsolventen (ins Berufsleben). Bei uns war sie verständlicherweise sehr beachtet worden; in den U.S.A. weniger (meine von drei Publikationen der Ostküste beeinflusste Wahrnehmung). Am 1.6.2019 veröffentlichte Edo Reents seinen kritischen Text Festgemauert in den Phrasen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. 6, Nr. 126) -  während einige Seiten zuvor Majiid Sattar in derselben Ausgabe die Rede der Kanzlerin gelobt hatte. Es gab ein zweitägiges, kräftiges Echo der Leserschaft auf den Text von Edo Reents (am 4. und am 5.6.2019, jeweils S. 6); der Text von Majiid Sattar wurde dort nicht kommentiert. Edo Reents erhielt vier Zusprüche und 12 Verweise für seinen Text. Das Gemerkel war dieses Mal umstritten (s. meinen Blog Gemerkel 11 vom 31.5.2019).

Die Empörung über das Verdikt von Edo Reents -  Festgemauert in den Phrasen - ist bemerkenswert. Man kann die Empörung als den öffentlichen Versuch, die Kanzlerin in Schutz zu nehmen, verstehen: in ihrer (präsentierten oder inszenierten) Schlichtheit,  Rührseligkeit,  Mittelmäßigkeit und Unpersönlichkeit; ihr Ehrgeiz ist versteckt; was sie bewegt, ist nicht zu erkennen. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit geboren, in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen, in der vergrößerten Republik aufgestiegen, hätte sie viel von sich oder über sich zu sagen gehabt. In Harvard sprach sie von ihrem Wunsch nach Freiheit  - was immer sie damit verbindet an Lebenswünschen und Lebensmöglichkeiten, blieb unklar - und davon, dass sie abends, wenn sie in Berlin von ihrer Arbeitstelle nach Hause auf die ost-westdeutsche Betongrenze zuging, mit ihrer Unfreiheit haderte, um dann in ihre Wohnung abzubiegen. Das war's.

Das war zu wenig für eine öffentliche Rede zu einer akademischen Auszeichnung. Verglichen  - beispielsweise - mit der Rede von Joanne Kathleen Rowling, die sie 2008 in Harvard hielt und an der sie mehrere Monate gearbeitet hatte, ist Angela Merkels Text blamabel; in wenigen Stunden - oder waren es in Minuten? - verfasst (ich lege meine Erfahrungen beim Abfassen von Reden zu grunde), ohne Schwung und Pfiff, monoton vorgetragen und von der  Übersetzerin interpunktiert, desinteressiert, ihre Zuhörerschaft zu erreichen, langweilte sie so ähnlich, wie sie in ihren TV-Ansprachen zum Jahreswechsel langweilte.

Was vermeidet sie zu sagen?
Etwas über sich zu sagen - über ihre Lebenswirklichkeit, ein äußerst schwieriges Amt zu führen, über ihre Lebenswünsche. Zumindest etwas - was sie persönlich werden lässt. Sich so zu verbergen, ist
verständlich, aber seltsam - und macht die Lähmung unserer Regierung verständlich. So kommt vielleicht der Schutzversuch  der (veröffentlichten) Leserschaft (16 Leserbriefe) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dem Selbstschutz unserer Kanzlerin entgegen.



(Überarbeitung: 2.7.2019)

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