Freitag, 16. Januar 2015

Flottierende Angst, flottierender Hass

Der fremde Blick sieht anders. Gestern am 15.1.2015 veröffentlichte Amy Davidson in ihrem Blog der Zeitschrift The New Yorker ihren Text mit dem Titel: "Germany's Strange New Right Wing". Ihr Text versucht, Europas Verfasssung zu beschreiben. Ihr Fazit im letzten Satz: "There is a free-floating, heat-seeking sort of hate afloat in Europe. It still is polymorphic; the question is what form it will take next". Die Formel vom free-floating spielt auf Sigmund Freuds Konzept der frei flottierenden Angst an, die gewissermaßen auf der Suche nach der Angst-auslösenden Quelle ist. Das kann man vom Hass nicht sagen: er hat sein Objekt, dessen Vernichtung er fantasiert oder realisiert, bereits gefunden; wobei man annehmen muss, dass zur projektiven Bewegung des Hassens ein nicht-bewusstes Objekt gehört, mit dem eine oder mehrere Erfahrungen tiefer Kränkung oder tiefer Beschämung gemacht wurden.

Aber angenommen: Amy Davidsons Beobachtung des Frei-Flottierens trifft zu, dann muss man zum Hass die frei flottierende Angst hinzudenken - als Quelle der erschreckenden Ohnmacht, Frustration und Verzweiflung, für die als Gegenwehr Objekte des Hasses gesucht und, das ist die gegenwärtige Tragödie, die alte Tragödien wiederholt, wieder gefunden wurden. Die Angst passt zu den aktuellen politischen, psychosozialen Bewegungen: die Finanzmärkte flottieren buchstäblich - die Schweizer Nationalbank gibt die Stabilisierung des Wechselkurses (ihres Franken zum Euro) auf, die Europäische Zentralbank verfolgt eine Politik des leichten Flottierens (in die andere Richtung) des Euro, europäische Länder kriseln mehr oder weniger stark, das Morden in einigen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens veranlasst die verzweifelten Menschen, ihre Heimatländer zu verlassen und sich in Europa anzusiedeln, der Osten Europas befindet sich im Konflikt ... die weltweite Digitalisierung droht und bedroht, während die bundesdeutsche Regierung sich für ihren Haushalt ohne (neue) Schulden preist und die Bundeskanzlerin sich mit einer Fehlleistung in ihrer gestrigen Rede verstolpert: unsere Welt schlingert; Politiker kommen ihrem impliziten Auftrag der Beruhigung nicht nach. Einen klaren Gedanken zu fassen, ist nicht einfach. Das war, wenn wir Ludwig Marcuses Schrift Das Märchen von der Sicherheit lesen, nie anders. Wohl ist es für jede Generation neu.

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