Mittwoch, 30. Januar 2019

Unsere Bundesregierung verwirft die Einführung eines Tempolimits: drei Bemerkungen zu den deutsch-bundesdeutschen Untugenden der Taktlosigkeit, der Korruption und der Heuchelei

1. Wer zahlt, bestellt die Musik, heißt es. Der Satz des fröhlichen Protzens gilt nicht für das Gefüge einer Gemeinschaft, in der jedes Mitglied gleichberechtigt ist. Dass die Bundesregierung  für unsere Automobilindustrie und unseren Straßenverkehr eine privilegierte Stellung beansprucht und sich (in diesem Kontext wie in den Kontexten der Transformation der Energieversorgung und der Immigration) nicht um ein balanciertes Gefüge in der europäischen Union schert, ist nicht in Ordnung. Die Bundesrepublik stürmt davon. Die Idee der Gemeinschaft wird verletzt. Das mächtige Auftrumpfen der nationalsozialistischen Regierung ist offenbar vergessen.

2. Zu wenig tödliche Unfälle könnten vermieden werden. Dieser Subtext steckt im Argument: ein Tempolimit auf Autobahnen nützt nichts. Dieses Argument ist skandalös, weil es ein Menschenrecht planiert.  Die Vermeidung eines tödlichen Unfalls reicht, um ein Tempolimit zu rechtfertigen. Wir können Menschenleben nicht verrechnen, hat kürzlich noch unser Bundesverfassungsgericht konstatiert. Die Würde des Menschen wird schnell zitiert; wenn es ernst wird, flattert der Grundsatz unseres Grundgesetzes davon. Fürs Geschäft wird offenbar eine korrupte (totalitäre) Moral für notwendig befunden. Es ist sehr die Frage, ob unser Verfassungsgericht dieses Argument durchgehen lassen würde.

Der andere korrupte Kontext ist die Leugnung der benignen Effekte, die die internationale und nationale Forschung zusammengetragen haben, wobei die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte die Forschung ihre Forschungsarbeit nicht haben ausreichend machen lassen. Die letzten qualitativen Studien sowie experimentelle Fahrversuche zum Fahren hoher Geschwindigkeiten liegen lange zurück. Die Forschung dazu ist tabuisiert oder verstaubt in den Schubladen der Behörden.

3. Die Freiheit des Schnellfahrens ist ein Missbrauch des philosophischen Konzepts der Freiheit. In der kitschigen Version lautet das Argument der Freiheit so: "Die individuelle, unbegrenzte Mobilität gewährt auch demjenigen noch ein Stück Freiheit, der sonst nicht viel zu sagen hat" (Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.1.2019, S. 1, Nr. 24). Abgesehen vom Ton der Herablassung und Verachtung - was sind: ein Stück Freiheit und unbegrenzte Mobilität? Was ist das? Schauen wir auf die Praxis des Hochgeschwindigkeitsfahrens. Walther Röhrl, der Fahr-Virtuose auf eisigem und verschneitem Untergrund, gab einmal als Regel für das Autobahnfahren aus: möglichst ohne zu bremsen auszukommen. So zu fahren ist voraussetzungsvoll: mittlere Geschwindigkeiten, die nur durch Ausrollen reguliert werden sollen, gleichmäßige Geschwindigkeiten, weite Sicht auf ausreichend große Abstände, um Platz für das Ausrollen zu erhalten.

Wird so auf unseren Autobahnen gefahren?

Nein.
Regelmäßig hoch beschleunigte Geschwindigkeiten vergeuden Kraftstoff und bedeuten ständige Regulationen der Abstände durch Bremsmanöver. Bremsmanöver erzeugen mit ihrem Abrieb an den Bremssystemen und an den Reifen den äußerst schädlichen Feinstaub. Beschleunigungsmanöver wechseln sich mit abrupten Bremsmanövern ab.  Die Folge sind kurze Abstände, unruhiger, bedrohlicher Verkehr, wenn die Hinterleute auf die Vorderleute mit ihren schrecklich leuchtenden Wagen dicht auffahren, irritieren, einschüchtern, ängstigen und ins Schwitzen bringen. Ist das beabsichtigt? Der Hintermann oder die Hinterfrau terrorisiert auf Kosten des Vordermannes oder der Vorderfrau? Der Hintermann bulldozert; er hat offenbar ausgeblendet, dass er nicht erwarten kann, die Autobahn leer vorzufinden, so dass er so schnell fahren kann, wie er fahren möchte. Seltsamerweise soll beim Schnellfahren die Höflichkeit des Alltags nicht gelten. Aber auch im Straßenverkehr leben wir von den kooperativen, wohlwollenden Beziehungen mit den anderen Autofahrerinnen und Autofahrern. Die Freiheit des Tempo-unbegrenzten Autofahrens bedeutet bei uns im Alltag des Autobahn-Fahrens häufig (wie weit verbreitet diese Interaktionsform des Autofahrens ist, müsste gründlich geprüft werden) : die unbezogene, vermeintlich alleinige Freiheit des Bolzens und der Machtausübung. Das Schnellfahren, wie die Propagandisten es verstehen, realisiert den Wunsch, von der Last der Zivilisiertheit buchstäblich befreit zu sein, und bestätigt Sigmund Freuds Vermutung von der persistierenden Feindseligkeit gegen die Kultur der Zivilisation.  

(Überarbeitung: 29.5.2019)

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