Donnerstag, 12. Januar 2012

Die Ohnmacht und die Gruppe

Heute brachte die SZ auf ihrer ersten Feuilleton-Seite (S. 11) den bemerkenswerten Text von Ingo Schulze mit dem Titel: Sich selbst wieder ernst nehmen. Der Titel ist psychotherapeutischer Jargon aus dem Repertoire der Formeln des unscharfen Aufmunterns und deutet das Problem des Textes an. Ingo Schulze beginnt ihn mit diesen Sätzen:
"Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von 'Quote' oder 'Format') und, und, und...."
Wenn alles so offensichtlich ist, weshalb dann dieses Gefühl einer Ohnmacht und Vergeblichkeit? Ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Was lähmt Ingo Schulze?

Das weiß ich nicht. Aber ich kann eine persönliche und eine abstrakte Antwort geben. Ich traue mich (noch) nicht, die Politik des Geschäfts einer Klinik zu beschreiben, weil deren Leitung vermuten wird, dass meine ehemaligen Kollegen - ich bin dort ausgeschieden - mich informiert hätten, und weil ich vermute, dass sie es auszubaden hätten. Also lasse ich es und warte auf meine Gelegenheit. Meine abstrakte Antwort. Ingo Schulzes Liste ist präzis und unpräzis zugleich. Das Problem ist, das seine Beschreibungen weit entfernt sind von unserer Lebenswirklichkeit. Es ist das alte Problem der abstrakten Begriffe. Solange wir allgemein bleiben, reden wir aneinander vorbei oder tun uns nicht weh. Erst die Beschreibung unserer Lebenswirklichkeiten mit ihren vielen widersprüchlichen kognitiven und affektiven Kontexten und Subtexten - bringt Leben in die bundesdeutsche Bude. Das wäre ein (wenn vielleicht auch altmodisches) literarisches Programm. Da gibt es jedenfalls noch enorm viel zu beschreiben.

Wie macht man das Sich-selbst-wieder-ernst-nehmen? Ingo Schulze gibt die Antwort: Den Mund aufmachen, sagt er. Das ist zu wenig. Wer Erfahrungen in Gruppen hat, weiß: Man muss seinen Mut zusammen nehmen und persönlich werden. Wie wird man persönlich? Indem man vor allem seine innere Welt beschreibt und sich um die Abstrakta möglichst wenig schert. Sigmund Freud gab das Programm und den Rahmen vor: Sagen Sie alles, was Ihnen einfällt - hier, in diesen 50 Minuten. Was man innerhalb der (psychoanalytisch orientierten) Psychotherapie sagen kann, kann man schlecht so einfach außerhalb der Psychotherapie sagen. Im Alltag muss man sich den Raum für den Rahmen erobern - also Beziehungen herstellen, in deren Kreis man sich traut, persönlich zu werden. Erst dann wird man lebendig und fühlt sich nicht mehr so gelähmt.  Leicht gesagt, schwer getan.    

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