Freitag, 13. Januar 2012

Eine Hypothese zu den kognitiven und affektiven Folgen der Sozialisation

Würdest Du den Abfall rausbringen?, sagte neulich meine Frau zu mir. Ein tadelloser Satz - der Konjunktiv als Höflichkeitsform. Das ging mir nach. Wir kommen, dachte ich, mit der Sprache unserer Eltern in die Schule. Was ist mit den Kindern, die ein holpriges Deutsch im Ohr haben? Mir fiel unsere Tochter ein, die, verglichen mit mir, leicht Latein lernte - während ich enorme Mühen hatte. Ich erinnerte mich, dass mir die Verbindungen der Satzteile lange Zeit rätselhaft vorkamen und dass mir Deklination und Konjugation äußerst schwer fielen. Ich erinnerte mich, dass ich erst nach der Schulzeit, während des Studiums, in die DUDEN Grammatik schaute und allmählich begriff.

Schwerfälligkeit im Lernen, vermute ich heute, ist auch ein Sozialisationsprodukt. Der Brite Basil Bernstein entdeckte die Schicht-abhängige Differenz der Sprach-Kompetenz, die er mit den Begriffen des elaborierten und restringierten Codes beschrieb. Wenn ich mich richtig erinnere, berücksichtigte er nicht die affektiven Folgen: die Scham, die Angst und die Unsicherheit, die mit einem restringierten Code oder einem fragilen Sprach-Verständnis verbunden sind. Diese Affekte behindern buchstäblich und machen in dem sozialen Gefüge und in den damit verbundenen Beziehungen einer Klasse - dumm.

Am Ende des vergangenen Jahres berichtete Tanjev Schultz in der SZ (19.12.2011, S. 38) von diesem Problem unter der Überschrift "Ungerechte Noten. Studie zeigt, dass Arbeiterkinder in der Schule weiterhin benachteiligt werden".  Der Befund muss ergänzt werden, denke ich: Arbeiterkinder sind in der Schule in ihrer Leistungsfähigkeit möglicherweise, vorsichtig gesagt, hier und da  behindert. Sie schneiden in standardisierten Leistungstests besser ab, weil diese psychologischen Verfahren andere, eher vergleichbare und balancierte Voraussetzungen und Situationen herstellen als das sehr komplexe Gefüge einer Klasse mit seiner impliziten psychosozialen Hierarchie und seinen sublimen Vergleichsprozessen. "Herkunft wird mitzensiert", bilanziert Tanjev Schultz das Fazit der Studie. Ja, Herkunft wird mitzensiert, weil sie die Leistungsfähigkeit in der Klasse dominiert als der im stabilen oder fragilen Selbstgefühl der Schülerinnen und Schüler strukturelle Niederschlag der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen. Was folgt daraus? Sehr kleine Klasse wären ideal - dann könnten die Pädagogen, wenn sie dafür einen Blick entwickeln, auf die Auswirkungen der Sozialisationsbedingungen auf das Selbstgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler und damit auf deren unterschiedliche Verständnis- und Leistungsfähigkeit achten.

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