Mittwoch, 11. Januar 2012

Ist Hass ein politisches Argument?

Auf der Seite Drei der SZ berichtet Gunnar Herrmann heute von der norwegischen öffentlichen Diskussion der Diagnosen des psychiatrischen Gutachtens zur Verfassung von Anders Breivik: "Verrückte Welt. Bei Anders Breivik waren sich die Gutachter schnell einig: Er ist unzurechnungsfähig.  Doch jetzt wird der Befund zerpflückt. In dieser Woche will das Gericht klären, ob der Massenmörder neu untersucht werden muss. Der Streit spaltet Norwegen". Es ist verständlich, aber unglücklich, dass die öffentliche Diskussion der Gerichtsverhandlung vorgreift - es ist Sache des Gerichts, die Plausibilität der von den psychiatrischen Sachverständigen gefundenen Diagnosen zu prüfen. Öffentlich diskutiert wird die Plausibilität der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und der Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung. Den beiden Diagnosen liegen unterschiedliche theoretische Konzeptionen der Genese von psychischer Erkrankung zu Grunde. Insofern ist es nicht schlecht, wenn Diagnosen hinsichtlich ihrer expliziten und impliziten Hypothesen sowie ihrer empirischen Belege überprüft werden. Dass Anders Breivik unter einer schweren psychischen Erkrankung leidet, die wahrscheinlich in dem mörderischen Überfall kumulierte, ist offenbar der Konsensus der Sachverständigen.

Das ist aber nicht der Konsensus in Norwegens öffentlicher Diskussion. Was ist mit Anders Breiviks Welt-Bild, mit seinen Einstellungen und Überzeugungen? "Wenn Breiviks politische Vorstellungen geisteskrank sind, dann gibt es eine Menge schizophrener Menschen in Europa", zitert Gunnar Herrmann den Experten Daniel Poohl. Kann man Breiviks Einstellungen und Überzeugungen politisch nennen? Politisch kann man eine integrative Haltung nennen, die an dem Prosperieren einer Gemeinschaft interessiert ist, die sich an den von uns geteilten zentralen Werten orientiert. Eine Haltung, die diese Gemeinschaft zu zerstören beabsichtigt, ist kriminell. Breiviks Vorstellungen sind, wenn ich richtig sehe, von einem enormen Hass gespeist. Es ist unklar, wem sein Hass gilt. Aber der Hass, der Wunsch, das verfolgte Objekt zu vernichten, ist kein politisches Motiv und kein politisches Argument. Mord ist das Überschreiten, führte Pierre Legendre in seiner Arbeit über den Gefreiten Lortie aus, unserer zivilisatorischen Grenze. Mord ist der Angriff auf unsere gesetzliche Ordnung - psychoanalytisch könnte man wie Legendre sagen: Mord ist der Angriff auf den symbolischen Vater. Mord ist ein Vater-Mord. Das Adjektiv politisch adelt die Wucht des Hasses mit einem ehrenwerten Motiv, die Adjektive rechtsextremistisch wie auch linksextremistisch kalmieren die Wucht des Hasses. Der Hass muss, politisch gesehen, in ein Gespräch kommen; er muss verstanden werden. Wer hasst, hat seine Gründe zu hassen. Sie gehören in eine Gerichtshandlung und später in die öffentliche Diskussion.

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