Mittwoch, 11. Januar 2012

Die Politik der Klischees

Gestern war auf der Seite 16 der SZ zu lesen: "Der Keim des Radikalen. Kinder mit geringerem IQ neigen später eher Rassismus zu". Jetzt wird die Welt wieder übersichtlich: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Die Idee ist uralt; Platon hatte sie schon politisch gewendet; Thilo Sarrazin war der letzte Autor, der mit dem Intelligenzquotienten argumentierte. Sebastian Herrmann, Autor des Textes, zitiert britische, nordamerikanische und kanadische Studien, die die Vorurteilsbereitschaft mit IQ-Werten korrelierten. Korrelationsstudien beschreiben statistisch auffällige Regelmäßigkeiten zweier Variablen, aber liefern keinen Erklärungszusammenhang für deren Zusammentreffen. Inwieweit der korrelative Kontext relevant ist, hängt von der zuvor kontrollierten Gültigkeit der in die Variablen eingegangen Hypothesen ab. Wie die Forscher dabei vorgingen, erläutert Sebastian Herrmann nicht. Offensichtlich prüfte er die theoretischen und methodischen Voraussetzungen der Studien nicht. Er ist auch nicht informiert, wie die IQ-Werte verstanden werden müssen. Er schreibt: "Wer sich darin (in einer Studie, G.B.) als 'sehr konservativ' bezeichnete, erzielte im Schnitt einen IQ von 95, also fünf Punkte unter dem Durchschnitt. Wer sich hingegen als politisch 'sehr progressiv' bezeichnete, kam im Schnitt auf einen IQ von 106". Das aber ist ein Missverständnis; beide Werte liegen gemäß ihrer Verteilung im Bereich durchschnittlicher IQ-Werte. IQ- Werte sind Rangplätze; man kann sie nicht so verrechnen wie die Zentimeter eines Zollstocks.

Was hat Sebastian Herrmann zu diesem Text "Der Keim des Radikalen" bewogen? Und wieso lässt er die Studien ungeprüft durchgehen? Zwei Vermutungen, die zusammen gehören: 1. der IQ-Wert reduziert die Komplexität der Genese politischer Einstellungen und Haltungen; 2. deren Genese hängt von der Qualität der Sozialisationsbedingungen, die wiederum vor allem, aber nicht nur abhängen vom sozioökonomischen, psychosozialen Status der Mitglieder eines Familiensystems. Hass entsteht in dysfunktionalen familiären Systemen. Worin sie nicht funktionieren, muss man prüfen. Wir nähern uns mit dieser Frage der lästigen Frage unserer Geschichte: Worin bestand und wogegen richtete sich der nationalsozialistische Hass?

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