Mittwoch, 13. April 2016

Journalismus-Lektüre XVI: Kinder-Beschimpfung

In der Abteilung Familienleben las ich das Interview mit der Autorin und Kinder- und Jugendtherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (10.4.2016, S. 17). Das Interview ist überschrieben mit dem knalligen Zitat:

"Viele Kinder von heute werden totale Narzissten". Untertitel: "Immer mehr Eltern versagen kläglich, wenn es darum geht, den Nachwuchs zu erziehen, sagt die  Kinder- und Jugendtherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger. Das wird gravierende Folgen für das spätere Zusammenleben und die zukünftige Gesellschaft haben".

Mein erster Gedanke war: was mögen die Eltern denken und sagen, die ihre Kinder zu Frau Leibovici-Mühlberger brachten und jetzt hören mussten, dass sie zunehmend kläglich gescheitert sind? Wenn Ihnen also nachträglich eine miserable Zensur ausgestellt wird? Mein zweiter Gedanke: klinisch-psychiatrische Begriffe oder Diagnosen - das war ein Problem psychoanalytischer Konzepte - fungieren hier in diesem Interview wieder als eine Art Disqualifikation oder Beschimpfung. Es war in den 60er Jahren, als Heinz Kohut dem Konzept des freudianischen Narzissmus eine wohlwollende, bestätigende Perspektive gab: ohne ein gutes Selbstgefühl können wir nicht leben. Allerdings war es dann Christopher Lasch, der 1978 mit seinem Buch The Culture of Narcissism. American Life in An Age of Diminishing Expectations zum alten Narzissmus-Unverständnis zurückkehrte. Mein dritter Gedanke: in einer psychotherapeutischen Praxis oder eine psychiatrischen Klinik bekommt man einen schiefen Blick für die Repräsentativität der Praxis-Erfahrungen; nicht statthaft sind die Extrapolationen auf die Gesamtbevölkerung.

Dann dachte ich: wieso läßt die Journalistin Katrin Hummel die Rückkehr zu Christopher Lasch und die wilden Extrapolationen und die Kinder-Beschimpfungen durchgehen? Was sind totale Narzissten? Doch wohl Kinder in Not - gibt die Therapeutin im Text auch zu. Was sollen die wilden Prognosen? Beispiel am Ende des Fragen-Abhakens: "Sie" - die Kinder, die Erwachsene werden - "haben eine Ich-Brille auf, die beurteilen ihre Umgebung nur danach, was sie ihnen für Vorteile bietet. Das ist der reine Narzissmus". Der reine Narzissmus: und der andere nicht reine? Weiter: "Aber eine Gesellschaft, in der die Generationen nicht zusammenhalten, wird zerfallen. Wenn das Experiment Mensch gelingen soll, brauchen wir stabile und liebesfähige Persönlichkeiten, und zu solchen wachsen derzeit die wenigsten Kinder heran". Die wenigsten: kennt sie so viele Kinder?

Und was ist mit den Kindern, die sie in ihrer therapeutischen Behandlung hatte? Die entwickeln sich
doch hoffentlich gut.

Am Ende des Textes steht die Bibliographie des Buches von Frau Leibovici-Mühlberger. So wäscht die eine Hand die andere. Das normale Geschäft eines Journalismus, der sich auf den Affekt des Unverständnisses und des Abscheus mit dem apokalyptischen Schauder einstimmt. Wie war das noch mit den Panama-Papieren?

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