Montag, 18. August 2014

Kommt ZEIT, vergeht Rat

Ein alter Freund sagte mir diesen Satz, lange bevor ich (vor einigen Jahren) mein Abonnement der Hamburger Wochenzeitung kündigte - seit 1963 war ich dabei. Jetzt griff ich wieder zu und kaufte am Kiosk die Ausgabe mit dem pink unterlegten Aufmacher: "Wann bin ich wirklich ich?". Die zweite Titel-Zeile: "Jeder sucht nach dem Echten, dem Authentischen. Aber was ist das, und wie findet man das?"

Man findet es nicht.

Später im Blatt dann: "Mein wahres Gesicht? Heute ist das Echte, das Authentische gefragt. Doch was ist das? Und wie findet man es?" Der  Autor des Textes ist Ulrich Schnabel. Er beendet ihn mit dem Blick in den Spiegel: da muss man seinen Blick aushalten und mit sich (einigermaßen) einverstanden sein können. Das war's? Das war's (DIE ZEIT, Nr. 34 vom 14.8.2014, S. 27).

Das eigene wahre Gesicht kann man nicht sehen. Morgens machen wir im Badezimmer ein Badezimmer-Spiegel-Gesicht. Im inneren Dialog, den wir nur hören können, können wir uns fragen, ob wir mit uns einverstanden sind oder nicht. Wie sieht das unwahre Gesicht aus? Das wissen wir auch nicht. Auf einem Foto, finde ich, sehe ich immer anders aus als ich dachte: die Innenseite passt nicht zur imaginierten, fotografierten Außenseite. Heißt das, dass ich etwas zurückhalte? Vielleicht. Gibt es Situationen, in denen ich es nicht tue? Dann lasse ich mich (vielleicht) gehen - mehr als nach meiner Verfassung angemessen ist. Kann ich das auf einem Foto sehen? Dann erkenne ich mich auch nicht wieder. Der Blick des anderen macht unfrei, sagte Sartre. Bin ich frei, wenn der Andere abwesend ist? Nein, denn Freiheit oder das Gefühl von Freiheit/Lebendigkeit ist ein Beziehungsprodukt. Es geht um Bewegungsspielräume - in Beziehungen. In ihnen erleben wir uns - unterschiedlich. Jede Beziehung ist auf ihre Weise wahr; wenn sie liebevoll erlebt wird, ist sie wahr; wenn sie verlogen ist, ist sie wahr und offenbart meine Unterwerfung (oder etwas anderes). Es geht nicht ohne die oder den anderen; ohne sie oder ihn sind wir ein unbeschriebenes Blatt. Das wahre Gesicht, könnte man mit Sigmund Freud sagen, ist die Illusion vom Abstreifen der Kultur. Unser Gefühl für unseren Lebenszusammenhang, was Erik Homburger Erikson Identität nannte, die später als Selbst bekannt wurde, ist ein Rätsel: sie wirkt konstant und ist flexibel; wir können sie nicht greifen und doch richten wir uns nach ihr aus.

"Wann bin ich wirklich ich?"

Immer. Auch wenn ich nicht wahr bin.

Zum Glück höre ich diesen alten deutschen Rigorismus nicht mehr: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Wer diesen Satz erfand, verstand die Lüge nicht - und huldigte einem Authentizitätswahn oder, besser, einem Geständniswahn, den manche TV-Leute immer noch pflegen, wenn sie ihre Interviewten überfallartig konfrontieren und sich wundern, wenn sie eine echte Abfuhr erhalten.

Nachtrag vom 19.8.2014.
Manche Texte schreiben sich weiter. Das Konzept der Wahrheit ist ein riesiger Stein, den ich nicht aufnehmen kann. Wahrheit empfinde ich in den Kontexten als Terror, in denen vom falschen Bewusstsein, von falschen Gefühlen  und vom richtigen und falschen Leben (das eine irgendwie im anderen oder auch nicht)  gesprochen wird. Wer weiß, was richtig ist? Es gibt die persönliche Wahrheit: die Gewissheit eigener Überzeugungen und Wahrnehmungen - wobei man sich mächtig irren kann. Es gibt die uralte, kulturelle, gesellschaftlich ausgehandelte und einsozialisierte Wahrheit: die Sicherheit des Gefühls für Moral, Fairness und Anstand. Es gibt die Wahrheit der Rekonstruktion einer (Straf-) Tat oder Lebensgeschichte im Gerichtssaal oder im Sprechzimmer. Es gibt die wissenschaftliche Wahrheit als eine bewegliche, überprüfbare Annäherung an einen Sachverhalt. Es gibt die Wahrheit von Beziehungen. In diesem Sinne verstehe ich Wahrheit: als Form von Wirklichkeit.

Die Frage nach dem wahren Gesicht gehört in den Kontext der alten Frage: wer bin ich? Bin ich das so genannte autonome Individuum oder das Produkt meiner Beziehungserfahrungen in den unzähligen Kontexten eines Lebens? Die Frage heißt auch: Anlage oder Umwelt? Wahrscheinlich ist die Umwelt die Antwort. Oder die Gesellschaft oder Kultur. Das erscheint mir plausibel.  Gibt es den wahren Kern? Donald Woods Winnicott, der englische Psychoanalytiker und Pädiater,  hat darauf (für mich) eine glänzende (praktische) Antwort gegeben: er sprach (nüchtern) vom wahren Selbst und meinte die Kontexte, die wir nicht mitteilen können - also Kontexte, die zu Beziehungserfahrungen gehören. Vielleicht beziehen wir daraus unsere Individualität - wer weiß? Sein Konzept des falschen Selbst ist bezogen auf unsere im weitesten kommunikative Seite, die ist wahr insofern, als sie das Produkt unserer Anpassungsleistung ist. Sein Konzept von wahrem und falschem Selbst verstehe ich als seine coole Antwort auf die Frage von Anlage und Umwelt. Und Authentizität - dieses schwer auszusprechende Fremdwort gehört zur modernen Unsicherheit, in den realen wie beobachteten (imaginierten) Beziehungen (zur Chefin unserer Regierung beispielsweise) sich zurecht zu finden und seinen Wahrnehmungen zu vertrauen. Inszenierungen gehören zum Lebensalltag. So wie wir andere zu gewinnen suchen, unternehmen andere diese Anstrengung auch - aus welchen Motiven auch immer.

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