Mittwoch, 6. August 2014

Zwei Szenen einer kontaminierten, gewalttätigen Begegnung in Berlin (Graefekiez)

"Jeder in Israel erzählt dir, Berlin ist die offenste, toleranteste und coolste Stadt der Welt": mit diesem Bild und dieser Erwartung zog Yoni Yahav mit seiner Freundin Rotem Ariav von Tel Aviv auf den Berliner Graefekiez. Superlative übertreiben. Thorsten Schmitz erzählte die Geschichte des jüdischen Paares auf der Seite Drei der SZ (23.7.2014; Nr. 167) mit diesen Überschriften: "Der Krieg in den Köpfen. Nahost in Kreuzberg: Junge Männer aus palästinensischen Familien schlagen einen Israeli in Berlin. Das geschah im April. Und nun, mit dem Krieg in Gaza ist da auch eine Front in Deutschland".

Yoni Yahav, ist 31 Jahre alt, "spricht fließend Arabisch", so Thorsten Schmitz, "trägt keine Kippa und verfolgt mit Entsetzen den Gaza-Krieg". Am 24. April kamen abends, als er sein Rad abschloss, junge palästinensische Männer auf ihn zu und gingen ihn mit sehr robusten arabischen Formeln familiärer Beschimpfungen an. Yoni Yahav antwortete: "Wie könnt ihr so etwas sagen. Ihr kennt meine Familie gar nicht". Die jungen Männer waren überrascht. Ob er palästinensischer Israeli wäre, wollten sie wissen. Er wäre Jude, sagte er. Sein Einspruch beruhigte nicht. "Hau ab!", forderten sie Yoni Yahav auf, "wir wollen dich hier nicht. Wir wissen, dass Deutschland hinter euch Juden steht, aber wir hassen euch". Yoni Yahav widersprach: "Ihr kennt mich nicht. Ich bin gegen die Besatzung, ich bin auch gegen Netanjahu". Das Eingeständnis des Hassens wurde wiederholt, Yoni Yahav wurde nicht weiter behelligt. Die Begegnung arbeitete in den Beteiligten weiter. Denn als Yoni Yahav am anderen Tag sein Fahrrad aufschloss, beobachteten ihn die jungen Männer. Yoni Yahav entdeckte, dass an seinem Fahrrad die Schale für sein mobiles Telefon fehlte. Er fragte: "Wer hat euch beigebracht zu stehlen? Ihr habt keine Ehre". Die Frage quittierte einer der Männer mit der Drohung: "Keine Ehre, weil wir dich nicht schon gestern Nacht zusammengeschlagen haben?" Yoni Yahav erhielt mehrere Faustschläge ins Gesicht; er brach zusammen; seine Freundin fuhr ihn ins Krankenhaus. Die Polizei wurde benachrichtigt. Yoni Yahav wurde von Beamten durch den Grafekiez gefahren, um die jungen palästinensischen Männer zu identifizieren; ihm waren diese Ermittlungen nicht recht. Er wurde in Israel behandelte. Er wurde informiert, dass an seiner Berliner Wohnung zwei junge Männer und ein Erwachsener angeklopft hätten, um sich mit Blumen und Scholade zu entschuldigen. Yoni Yahav und Rotem Ariav kehrten nach Berlin zurück.

Ihre Rückkehr war eine noble Handlung. Sie möchten, so beschreibt Thorsten Schmitz ihre Motivation, mit den jungen Palästnensern sprechen. Sie zahlten, sagten sie, für die Politik ihres Regierungschefs. Sie könnten vor ihrer Identität nicht fliehen. Das Ermittlungsverfahren gegen die jungen Männern läuft; zwei von ihnen besitzen die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft. Wann und ob ein Prozess eröffnet wird, ist offen.

Thorsten Schmitz beendet seinen Text mit diesem Absatz:
"Als Yoni Yahav sein Rad in Kreuzberg abstellt, sieht er palästinensische Jugendliche auf der Bank vor dem Haus. Einer ist eingehüllt in die palästinensische Flagge. Yoni Yahav will gerade ins Haus gehen. Da hört er: 'Tod, Tod Israel!'"

Einen Tag später (am 24.7.2014) stellt Heribert Prantl in seinem Kommentar Nahost in Deutschland (SZ, Nr. 168, S. 4) fest: "Es gibt aber eine neue Gruppe von migrantischen islamischen Jugendlichen in Deutschland, die ganz selbstverständlich israelfeindlich und antisemitisch ist, deren besondere Aggressivität sich jetzt am Gaza-Krieg entzündet - und die sich die jungen Maghrebiner in Frankreich zum Vorbild nimmt. Nicht ganz wenige dieser Jugendlichen sind gewaltgeneigt. Das ist eine neue Gefahr; sie signalisiert grobe Integrationsdefizite".

Haben wir eine neue Gefahr (Heribert Prantl) und eine Front in Deutschland (Thorsten Schmitz)? Das ist sicherlich schwer zu sagen. Wir wissen wenig. Dass Yoni Yahav niedergeschlagen und verletzt wurde und sich nicht mehr sicher fühlen kann in Berlin oder in der Bundesrepublik, ist schrecklich. Leider sind und waren gewalttätige Szenen in unserem Alltag nicht selten. Es ist die Frage, wem sie gelten - an wen sie adressiert sind oder adressiert waren. An den beiden von Thorsten Schmitz beschriebenen Szenen - ich nehme sie als Protokoll der Interaktionen -  fallen mir verschiedene Aspekte auf. 1. Die drei Palästinenser scheinen einen großen Teil ihres Lebens in der Bundesrepublik aufgewachsen zu sein; zwei von ihnen sind Bürger unserer Republik; einer (der Wortführer) ist über den institutionellen Rahmen zumindest etwas informiert (wir wissen, dass Deutschland hinter euch steht); sie haben Eltern, die sich für die Bundesrepublik entschieden haben und wahrscheinlich deren Bürger sind. Womit also waren und sind die drei jungen Männer, die Yoni Yahav auf sehr robuste, aggressive Weise angehen und ihn zu kränken suchten, identifiziert? Gehörten ihre verbalen Ausfälle in den Kontext ihrer adoleszenten Auseinandersetzungen mit ihren Familien, mit ihren Lebenssituationen, ihren Lebensentwürfen und inwieweit waren sie Ausdruck ihrer eigenen Auseinandersetzungen miteinander innerhalb ihrer Dreier-Gruppe? 2. Bemerkenswert ist der Austausch, der stattfand: Yoni Yahav sprach sie auf ihre Vorurteile an, sie stutzten und fragten nach. Sie waren mit der Auskunft nicht einverstanden; sie hielten an ihrem Vorurteil fest; sie gaben die aggressive Interaktion auf. 3. Die zweite Szene am nächsten Morgen setzte die erste Szene fort - die drei jungen Männer warteten. Sie warteten auf eine Bestätigung ihres Vorurteils und auf die Gelegenheit, es auszuhandeln. Weshalb Yoni Yahav sie auf seinen Diebstahlsverdacht und auf ihre Ehre ansprach, lässt sich der Szene nicht entnehmen. Man kann vermuten, dass er sich instinktiv zu wehren versuchte, indem er die Differenz einführte (Dieb und Nicht-Dieb). Vermutlich war das der Beleg, auf den die drei Männer gewartet hatten. 4. Es gibt den Versuch einer Entschuldigung. Es wäre interessant zu wissen, wer von ihnen drei zur Wohnung gekommen war und wer sie begleitet hatte. 5. Der  Tod am Ende des Berichts wirkt wie ein Fluch. Aber wie war er gemeint?

Das wissen wir nicht. Antisemitismus ist projizierter, adressierter Hass; zu ihm gehören eine eliminatorische Fantasie und ein mörderischer Impuls. Er hat eine lange, kulturell etablierte Geschichte. Es gibt einen anderen, lebensgeschichtlich gewachsenen Hass -  entstanden aus traumatisierenden Beziehungserfahrungen - , der sein Objekt sucht und gewissermaßen Projektions-bereit lauert und für Außenstehende plötzlich, ohne sichtbaren Anlass, seine Destruktivität realisiert und nachher rationalisiert. Es ist notwendig, dass die Frage nach der Qualität des Hasses und seiner möglichen antisemitischen Adressierung geklärt wird. Sie beschäftigt die Bundesrepublik seit ihrem Beginn, als ein rascher Konsensus darüber entstand, die Frage des Antisemitismus eher zu unterdrücken oder hastig abzuhaken mit einem Anfall von Empörung als zu klären. Am 29.7., vor wenigen Tagen, warfen drei (noch) unbekannte Männer mehrere so genannte Molotow-Cocktails auf die Wuppertaler Synagoge (Kölner-Stadtanzeiger vom 2./.3.8.2014, S. 10). Mit Entsetzen nahm die jüdische Gemeinde diese Tat auf. Artour Gourari, ein Gemeindemitglied, lud zu diesem Experiment ein: "Wer wissen will, ob es Antisemitismus gibt, der sollte sich mal die Kippa aufsetzen und durch die Fußgängerzone gehen". Das Experiment, ein enormes sozialwissenschaftliches Projekt, sollte unternommen werden.


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