Mittwoch, 13. August 2014

Ein seltsamer Imperialismus

Vergangenen Samstag, am 9.10.2014, war in der SZ das Interview abgedruckt, das Christina Berndt mit Elisabeth Binder, der Direktorin am Münchener Max-Planck-Institut, geführt hatte (Beilage Wochenende, S. 10, Nr. 182). Titel: Elisabeth Binder über die Seele. Die Seele kam aber nicht vor - Elisabeth Binder sprach einmal über die "menschliche Psyche", das andere Mal über "psychische Gesundheit"; ansonsten sprach sie über Gene und Moleküle als die "biologischen Grundlagen". Das Interview könnte man zur Grundlage eines Seminars machen oder eines langen Textes. Das geht hier nicht.

1. Der Auftakt des Gesprächs. Christina Berndt: "Frau Binder, wie ist denn eigentlich Ihr persönlicher FKBP5-Status? Elisabeth Binder: "Oh, ich weiß gar nicht, ob ich das je überprüft habe". Christina Berndt: "Aber das ist doch Ihr liebstes Seelen-Molekül!" Elisabeth Binder: "Die Effekte von FKBP5 auf die menschliche Psyche sind faszinierend, ja. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass Menschen mit einer Variante dieses Gens nach einem Trauma leichter seelisch krank werden. Wenn Sie als Kind missbraucht wurden oder etwas anderes Schreckliches erlebt haben, entwickeln Sie leichter Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung als Menschen mit einem anderen FKBP5-Gen. Es gibt also eine Risiko-Variante und eine schützende Variante von dieser Erbanlage".

Das FKBP5 wurde in dem gesamten Interview nicht erläutert - es ist ein Eiweiß, das der Immunregulation zugeordnet wird - ; es wurde auch nicht erläutert, in welchem Untersuchungsprozess es wie identifiziert wurde.  Frau Binder machte keinen Versuch der Übersetzung und der Klärung.

2. Unklare Ableitungen. Gene sind die Träger der Erbinformation; sie machen unsere Grundausstattung aus; sie enthalten auch die Information zur so genannten Transkription, die notwendig ist für die Herstellung der Eiweiße. Transkription, könnte man sagen, ist auch der komplizierte Prozess der Weitergabe der Erbinformationen im Prozess des Lebens; dass die Transkription nicht immer identisch ausfällt, ist eine Lebenstatsache; so verändern sich die molekularen Informationen; so verändern sich die Individuen; so verändern sich die Arten. Wenn die Erbinformationen nicht konstant bleiben, kann man sie dann noch Erbinformationen nennen? Und wie kann man ihre Konstanz feststellen? Wann sind sie konstant? Im Moment der Konzeption? Im fünften Monat der Schwangerschaft? Im Moment der Geburt? Man kann es nicht; die Konstanz ist eine grundlegende Annahme. Die Inkonstanz ist gewissermaßen der Normalfall. Wie kann die Dialektik von Konstanz und Inkonstanz, von Struktur und Prozess, untersucht und konstatiert werden? Die Genetik hat für dieses Problem die Differenz von Genotypus und Phänotypus eingeführt. Das Problem der Bestimmung der Grundstruktur bleibt.

Christina Berndt: "Fasziniert es Sie noch, dass Gene unser Verhalten verändern können?" Elisabeth Binder: "Ja, unbedingt. Als junge Wissenschaftlerin habe ich das bei Mäusen gesehen. Dort wirken sich genetische Veränderungen darauf aus, ob die Tiere ängstlich oder mutig sind. Mutige Mäuse erkunden eine neue Umgebung, ängstliche verkriechen sich dort". Mäuse - keine Individuen. Das ist ein grundlegendes methodisches Problem: bei Mäusen kann man die Lebensbedingungen und die zu untersuchenden Variablen reduzieren. Die Reduktion ist notwendig, weil anderenfalls die Experimente zu komplex werden. Kann man von mutigen und ängstlichen Mäusen sprechen? Empfinden Mäuse Mut? Wir wissen es nicht. Unser von unserem Erleben abgeleitetes Vorverständnis ist ebenfalls eine (hineingeschmuggelte) Annahme für die Anlage und die Interpretation des Experiments. Die Mäuse sind unsere wie selbstverständlich eingeführten Stellvertreter.

3. Die unergiebige Fragestellung. Christina Berndt: "Gene oder Umwelt: Was beeinflusst unser Seelenheil denn nun stärker?" Elisabeth Binder: "Wir gehen davon aus, dass es so in etwa fifty-fifty ist. Früher hieß es immer: Umweltfaktoren, die frühe Kindheit zum Beispiel, sind ganz wichtig. In den Anfängen der Genetik glaubte manche dagegen, gegen den Einfluss der Gene komme nichts an. Jetzt wird immer klarer, wie stark der gegenseitige Einfluss ist. Natürlich ist die Umwelt wichtig. Aber wir gehen wegen unserer Gene mit unserer Umwelt unterschiedlich um. Und die Umwelt kann sogar unsere Gene verändern".

Fifty-fifty heißt: wir wissen es nicht. Wie auch? Mit dem Beginn des Lebens (der Zeitpunkt ist umstritten) setzt der interaktive Austausch mit der jeweiligen Umwelt ein, in der man lebt; die erste Umwelt erweitert sich zu vielen Umwelten. Mit anderen Wort: die geerbte Grundinformation wird sofort beeinflusst, modifiziert, ergänzt - wie auch immer. Man kann, wenn überhaupt, nur eine interaktiv geformte genetische Information erfassen, aus der man die Struktur gewissermaßen herausliest oder intuitiv erfindet wie damals James D. Watson und Francis Crick mit der Doppel-Helix (die sich dann als ein hypothetisches Bild bewährte). Die Frage, welche Strukturen  überwiegen, ist nicht zu entscheiden, weil der für die psychische Struktur entscheidende Prozess der Integration der Identifikationen und Introjektionen - der Niederschlag der Beziehungserfahrungen - nicht zu übersehen ist: buchstäblich.  Hat der 6-jährige Junge, der manchmal wie sein Vater blickt, diesen Blick geerbt oder übernommen? Es lässt sich nicht entscheiden. Aber es lässt sich annäherungsweise in einem psychotherapeutischen Prozess rekonstruieren. Wir sind das Produkt unserer Beziehungserfahrungen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm - sagt eine wie selbstverständliche Alltagsweisheit. Die Frage ist immer, wie weit er vom Stamm weg fällt. Wahrscheinlich ist man gut beraten, wenn man einen sehr komplexen Erfahrungsprozess annimmt.

4. Heimlicher Imperialismus.  Elisabeth Binder, nach ihrer Überzeugung gefragt, sagte: "Meine Hoffnung ist, dass sich diese Dichotomie - Psychiatrie und der Rest der Medizin - auflöst, weil wir die biologischen Grundlagen dieser Erkrankungen immer besser verstehen und die Gesellschaft die Risikofaktoren immer besser eindämmt". Die biologischen Grundlagen entscheiden; von ihnen muss man ausgehen, sagt sie. Aber wenn man an der Dichotomie von Psyche und Soma festhält, dann sind Psychische Erkrankungen  ein unproduktiver, vereinseitigender Begriff; man sollte eher von Erkrankungen des Kerns eines Menschen oder, weniger medizinisch gesagt, von schweren Lebenskrisen sprechen und sie diagnostizieren - den tiefen Erschütterungen des Selbst-Gefüges; sie betreffen unsere gesamte Existenz; sie  einer somatischen oder  einer psychischen Dimension zuzuschlagen, unterschätzt das Gewicht dieser Erkrankungen und führt zu konzeptionellen Schieflagen.

5. Ironie als Gegenargument. Christina Berndt schlug einen, wie ich finde, ironischen Ton an. Das beginnt mit dem Titel ihres Interviews, in dem die Seele angekündigt wird, aber nicht richtig auftaucht. Ironisch liest sich das in den Fließtext eingeschobene Zitat: "Endlich ist bekannt: Gehirn, Geist und Körper gehören zu einem Organismus". Vielleicht war Christina Berndt enttäuscht von den vielen unscharfen, unbelegten Allgemeinheiten; vielleicht kam sie nicht richtig gegen diese Art von defensiver Wissenschaftspolitik, die Elisabeth Binder pflegte, an. Vielleicht ist auch der Redaktion des Interview-Textes Einiges zum Opfer gefallen. Es kam kein Gespräch - kein Austausch - zustande.
Wissenschaft ist  - der Idee der Falsifikation einer überprüfbaren Hypothese nach -  ein kritisches Geschäft; kritische Fragen sollten willkommen sein. Das war hier nicht der Fall. Natürlich ist die Erforschung der molekularen, genetisch begründeten Regulationsprozesse  relevant. Schwierig wird es, wenn sie die Erforschung anderer Regulationsprozesse zu ersetzen beabsichtigt. Dass die "Psychiatrie", wie Elisabeth Binder sagt, "immer mehr zur Naturwissenschaft wird", ist kein Fortschritt, sondern der Versuch, Wissenschaftspolitik zu machen, indem andere Konzepte implizit zur Makulatur erklärt werden. Die Seele ist damit verschwunden. Die Forschungsmittel wandern in die Labors, während die als naturwissenschaftlich deklarierte Psychiatrie Versprechungen einfacher Eingriffe in menschliche Systeme macht. Aldous Huxley, könnte er es, würde grüßen: brave, new world.

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