Montag, 18. August 2014

Zum ambivalenten Interesse am Maßregelvollzug

Die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Gustl Mollath vor dem Landesgericht Regensburg ist verhandelt. Gustl Mollath wurde freigesprochen; er wird für die Dauer seiner Unterbringung in den so genannten Maßregelvollzug entschädigt. Das Gericht hat die Tatsache seiner Straftaten bestätigt - aber nicht seine im ersten Verfahren festgestellte (eingeschränkte) Schuldunfähigkeit und seine fortbestehende Gefährlichkeit. Weil im ersten Verfahren Gustl Mollath von Schuld freigesprochen wurde, konnte er im zweiten Verfahren nicht für schuldig befunden werden; der Wahrheitsgehalt des ersten Urteils besteht weiter, die daraus abgeleitete Prognose nicht. Das ist auf den ersten Blick vielleicht kompliziert; jedenfalls hat die Unterbringung von Gustl Mollath auf die Zweizügigkeit unseres Rechtssystems aufmerksam gemacht - Strafvollzug auf der einen, Maßregelvollzug auf der anderen Seite. Der Strafvollzug dient der Vorbereitung auf ein straffreies Leben, der Maßregelvollzug der im weitesten Sinne therapeutischen Veränderung des oder der Beschuldigten mit dem Ziel der Vorbereitung auf ein Leben ohne erhebliche Straftaten (so das Gesetz). Heilung, wie dieses Gesetz oft missverstanden wird, ist nicht beabsichtigt. Strafvollzug und Maßregelvollzug, das ist eine der juristischen Implikationen, haben mit Straftätern unterschiedlicher Struktur zu tun; der Paragraf 20 StGB hat diese Struktur umschrieben.

Mit Gustl Mollath stand aber auch in der öffentlichen Diskussion - explizit oder implizit - das System des Maßregelvollzugs zur Debatte. Dieses System ist weitgehend unbekannt. Es beginnt damit, dass von der Psychiatrie gesprochen wird, ohne zwischen den Strukturen der Abteilungen (eines psychiatrischen Krankenhauses) und deren klinischen Aufgaben zu unterscheiden; evoziert wird das Bild eines großen Backsteinhauses, das von einer riesigen Backsteinmauer umgeben ist: einmal drin, kommt man nicht mehr raus. Deshalb muss man den in das Verlies der forensischen Psychiatrie Eingesperrten - mit diesem Verbum operierte Heribert Prantl in seinem Kommentar Glanz und Elend eines Freispruchs in der SZ (vom 16./17.8.2014, S. 4; Nr. 187) - befreien: der häufig repetierte Subtext der Berichterstattung. Das Problem des Maßregelvollzugs ist die Prognose der fortbestehenden Gefährlichkeit eines forensischen Patienten. Sie hängt von der Konzeption der Begutachtenden ab. Im ersten Verfahren, das die Juristen das Erkenntnisverfahren nennen, leistet ein Gutachter oder eine Gutachterin ein Vorverständnis, dem ein Gericht seinem eigenen Verständnis nach folgt (oder nicht folgt) und die Unterbringung anordnet (oder verwirft). Die nachfolgenden Begutachtungen der therapeutischen Teams liefern die Einschätzungen des Behandlungsverlaufs (meistens einmal innerhalb eines ganzen Jahres) und prognostizieren im Hinblick auf die Frage einer möglichen Entlassung die nachlassende oder fortbestehende Gefährlichkeit des untergebrachten Patienten.

Die Prognosen sind entscheidend. Sie sind das Produkt eines gelungenen oder misslungenen therapeutischen Prozesses. Wovon hängt er ab? Er hängt von dem Verständnis und damit von der Hoffnung ab, die Mitglieder des Systems des Maßregelvollzugs (vor allem die therapeutischen Teams) dem späteren Patienten oder der späteren Patientin entgegenbringen. Verständnis und Hoffnung hängen von den psychologischen, soziologischen und politischen Konzeptionen der Beteiligten ab. "Die Justiz hat ihn  misshandelt", schreibt Heribert Prantl zu Gustl Mollath. Das kann man so nicht sagen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - dass die Dauer der Unterbringung in einem angemessenen Verhältnis zur Straftat (verglichen mit dafür vorgesehenen Freiheitsstrafen) steht -  existiert als strenge Forderung an den Maßregelvollzug seit den 80er Jahren; er wurde aufgegeben zugunsten des zunehmenden Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wort des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (eines gelernten Juristen) gipfelte, bestimmte forensischen Patienten ein für alle Mal einzuschließen. Der juristische Rahmen des Maßregelvollzugs ist großzügig und nobel ausgelegt; er wurde nach und nach verengt. Dieser Prozess ist weitreichend. Er gehört in den bundesdeutschen Kontext einer schnellen Angstbereitschaft bei einem Desinteresse an ausreichender Berücksichtung und Erforschung schwerer dysfunktionaler oder pathologischer Sozialisationsverhältnisse.  Eine Pauperisierung der psychosozialen Theorien ist zu beobachten. Psychoanalytische Theorien sind nicht out, aber marginal. Sie dienen in der öffentlichen Diskussion (wenn überhaupt) vor allem dem Feuilleton - im klinischen Alltag ist es anders - , aber keinem systematischen Erkenntnisinteresse. Psychoanalytisch orientierte Gutachterinnen und Gutachter sind rar. Das psychoanalytisch orientierte Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft wurde nicht weiter geführt.  Neurologisch orientierte oder sich als biologisch gerierende Vorgehensweisen dominieren (s. meinen Blog Ein seltsamer Imperialismus vom 13.8.2014) die öffentliche Wahrnehmung, folgen einem Maschinen-Bild vom Menschen und versprechen einfache, kurative Interventionen. Die Reduktion der Komplexität ist ein weitereichendes Interesse an Kontrolle und Macht. Der Maßregelvollzug ist vor allem interessant als die Exotik des fremden Unverständlichen, nicht als ein Ort der Klärung schwerer traumatisierter und gescheiterter Lebensverläufe.      

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