Freitag, 8. August 2014

Wie überlebt man als verurteilter Mörder?

Willi Winkler lese ich im Feuilleton der SZ gern. Heute (8.8.2014) fand ich in seinem Text Die zweite Erleuchtung. Ein Mitglied der Manson-Bande meldet sich aus dem Gefängnis (Nr. 181, S. 10) die Formulierung, die mir nachging: er schrieb von einem "Amerika" - "das begeistert eine vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung betreibt". Eine vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung. Das ist nicht schlecht - und vielleicht auch nicht falsch. Woody Allen hat sie regelmäßig in seinen Filmen nicht vulgär karikiert. Sicher, man kann sich fragen: was hat jemand von sich verstanden, wenn er oder sie das eigene Missgeschick als Fehlleistung oder als  Verdrängung kommuniziert? Man muss es im Einzelfall prüfen.

Aber psychoanalytische Konzepte wie Fehlleistung oder Verdrängung können auch Anregungen für eigene selbstreflexive Suchbewegungen, wie systematisch oder unsystematisch auch immer, sein; sie geben eine Richtung vor. Sie weisen auf die inneren Welten und darauf, dass wir uns in ihnen nicht auskennen. Das ist doch nicht schlecht. Willi Winkler bringt die vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung in den Kontext der Lebensgeschichte von Patricia Krenwinkel, die 1970 wegen mehrfacher Morde verurteilt worden war und seitdem, weil in Kalifornien die Todesstrafe ausgesetzt worden war, ihre Freiheitsstrafe verbüßt. Patricia Krenwinkel hat vor kurzem ein Interview gegeben, das die New York Times auf ihrer Website zur Verfügung gestellt hat. Willi Winkler geht auf dieses Interview ein:
"Sie habe sich am Wertvollsten vergangen, am Leben, sagt nun Patricia Krenwinkel, die alte Frau mit einem Schaubühnengesicht, als wäre sie Edith Clever. 1970 im Prozess war sie noch ganz und gar von Charles Manson erleuchtet. Krenwinkel hat sich dann von ihm losgesagt, sie hat im Gefängnis, wo sie anderen hilft und selber malt, einen Universitätsabschluss gemacht, sie hat sich gefunden. Es ist wieder die Selbstfeier, der reine Horror".

Der reine Horror? Ich habe das Interview vor ein paar Tagen gesehen. Ich dachte: Patricia Krenwinkel rechtfertigt sich. Die Sprache, die Begründungen kamen mir bekannt vor: wie übernommen. Ja, vielleicht. Aber sie hat offenbar in ihrer Haft jemanden gefunden, dem oder der sie vertraut und sich an ihm oder an ihr orientiert. Sie hat ein - ihr - Narrativ gefunden. Ist das schlecht? Horror? Max Frisch sagte sehr klug (im Gantenbein): "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten". Da wir uns auf die Veränderfähigkeit von Menschen verständigt und die Rache ausgeschlossen haben, steht dies auch Patricia Krenwinkel zu - wie immer unsere Zweifel sind.

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