Freitag, 20. Februar 2015

Achtung, Nebenwirkungen! Einige Bemerkungen zum drohenden Zeigefinger journalistischer Extrapolationen

Zwei Beispiele aus der Rubrik Wissen der Süddeutschen Zeitung, die häufig leider viel Nicht-Wissen verbreitet.

1. Am 22.1.2015 konnte man den in der Abteilung Wirtschaft platzierten, ordentlichen Text von Elisabeth Dostert lesen: "Fern vom Glück. Tabuthema Depression: Die Volkskrankheit verursacht Jahr für Jahr wirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe" (SZ, S. 18). Am 30.1.2015 gab es auf der Seite Wissen den Text von Hanno Charisius "Depressiv vor dem Fernseher. Schlägt exzessiver Serienkonsum auf das Gemüt?" (S. 16).

Er schlägt. Fragt sich, worauf. 316 Befragte im Alter von 18 bis 29 Jahren hatten über die erlebten Folgen ausgiebigen Serien-Fernsehens Auskunft gegeben. Depressiv waren sie nicht geworden - jedenfalls lässt sich das den von Hanno Charisius beschriebenen Befragungsergebnissen nicht entnehmen. Ein Resultat war: "Einsame und deprimierte Menschen (neigen) zum vermehrten Fernsehkonsum". Klar doch; diesen Effekt kennen wir. Deprimiert zu sein hat nichts mit depressiv zu tun. Was gab es noch? Viele Befragte konnten mit dem Gucken schlecht aufhören. Kennen wir auch. Was ist daran gefährlich? "Bislang wurde Seriensucht als harmlos eingestuft", sagte die Untersucherin, "unsere Studie zeigt, dass dies nicht so ist". Die Sucht ist die Gefahr. Ist sie das? Wer süchtig ist, bekommt seine Lebensaufgaben nicht geregelt und kümmert sich nur noch um seine Sucht. War das so? Weiß man nicht. Kein Wort davon. Wer Zeit hat, kann gucken. Wer eine Auszeit von den Lebensaufgaben nehmen kann, auch. Neulich hat ein Journalist das ausgiebige Gucken der TV-Folgen mit dem Binge-Saufen verglichen. Das fand ich übertrieben. Ein Spielverderber. Hanno Charisius präsentiert - aus welchen (redaktionellen) Gründen auch immer -  ein strenges Gewissen. Ich finde dieses Vergnügen herrlich. Er sollte mit den wilden Extrapolationen vorsichtig sein und die Inflation des Begriffs der Depression nicht betreiben.

2. In derselben Ausgabe (30.1.2015) aus der Abteilung Wissen. Christoph Behrens ist der Autor des Textes "Identifikation aus dem Nichts". Aus dem Nichts. Schrecklich, nicht wahr? Aber: aus dem Nichts? Der Untertitel des Textes lautet: "Nur wenige anonymisierte Bewegungsprofile reichen aus, um die Identität von Kreditkartennutzern zu erkennen. Je größer die gesammelten Datensätze werden, desto kleiner bleibt die Privatsphäre". Vier Bewegungen, die mit der Kreditkarte bezahlt wurden, reichten bei 90 Prozent der Kreditkarten-Kunden aus, um deren Individualität zu markieren. Ist das überraschend? Finde ich nicht. Schrumpft, je mehr unsere Bewegungen bekannt sind, auch unsere Privatsphäre? Das ist die Frage: was besagt der Konsum über die eigene  Lebens-Welt? Wenig. Er wird überschätzt. Wir leben in Beziehungen und fantasieren uns in Beziehungen. Darüber geben Konsum-Daten keine Auskunft. Es fällt schwer, angesichts der von den professionellen Apokalyptikern schwarz gemalten Bedrohung durch die so genannten Big Data die sprichwörtliche Kirche im Dorf zu lassen.

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