Freitag, 27. Februar 2015

Bundesdeutscher Antisemitismus

Heute, am 27.2.2015, veröffentlicht Karin Steinberger ihren sehr lesenswerten Text (auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung): "Die Lebensfrage. Wer hätte das für möglich gehalten, dass es hier wieder heißt: 'Scheiß Juden!' Über den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland". Es ist, wie ich auch finde, tatsächlich eine Lebensfrage.

Sie besteht so lange, so lange die Bundesrepublik existiert. Wir sind ein zerrissenes Land. Die Schuldkonten wurden nach dem Krieg mehr als unzureichend abgerechnet. Karl Jaspers rechnete in seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik? (von 1966) vor: dass nach 1945 wohl fünfhunderttausend integre, für die politisch-gesellschaftliche Arbeit geeignete Leute existierten. Auf Jaspers' Bilanz erfolgte ein riesiger öffentlicher Aufschrei, der abklang, als ein Jahr später die Mitscherlichs ihre Arbeit Die Unfähigkeit zu trauen veröffentlichten, die im Prozess ihrer Rezeption als Selbst-Vorwurf missverstanden wurde, die Bundesdeutschen hätten ihre Vergangenheit verdrängt. Verdrängt war sie nicht; sie war - bis heute - stets gegenwärtig. Der bundesdeutsche Staat wurde mit den (sehr unterschiedlich) braun kontaminierten Eliten gestartet  - die offizielle (beschwichtigende und beruhigende) Version lautete: es ging nicht anders. Ob es hätte anders gehen können, ist heute nicht zu entscheiden. Die Frage, worin die Anziehungskraft und der Erfolg des mörderischen Nationalsozialismus bestand - diese Frage dringend zu erforschen hatten die Mitscherlichs vorgeschlagen - , wurde bis heute nicht so weit geklärt, dass darüber ein öffentlich geteilter Konsensus bestehen würde; darum wird noch immer gerungen. Wahrscheinlich gehört der quälende Prozess der Klärung zur bundesdeutschen Normalität; er wird noch lange dauern. Man muss daran erinnern, dass die Erörterung tabuisiert war oder zu tabuisieren versucht wurde - 1952 meinte der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer: man solle mit der Nazi-Riecherei aufhören

Wer starken Körpergeruch hat, dem empfiehlt man, sich regelmäßig zu duschen. Ein gepflegtes Äußeres und gute Tischmanieren waren vor allem in den 50er Jahren gern gesehen. Die bundesdeutsche Gesetzgebung, so nobel sie gedacht war mit dem Verbot des öffentlichen Genusses der braunen Soße als unbekömmlich, weil verdorben, hatte zur Folge, dass die Sympathisanten des nationalsozialistischen Vergnügens öffentlich schwiegen. Statt dessen sprachen andere oder verwandte oder dieselben Sympathisanten -  who knows? -  mit den regelmäßigen Schändungen jüdischer Gräber und Gebäude. Was die bundesdeutsche Öffentlichkeit wieder enorm irritierte: die Vergangenheit war nicht vergangen, und der (befürchtete) internationale strenge Blick lastete. So blieb die Vergangenheit gegenwärtig. Die bundesdeutsche historische Forschung erarbeitete Verständnisversuche von hohem Niveau. Dennoch resümierte Winfried Georg Sebald in Luftkrieg und Literatur: Die Deutschen seien ein geschichtsvergessenes Volk. Seine Frage war (in meinem Verständnis): was ist von der Forschung und dem Nachdenken in unserem Alltag angekommen?

Die Frage ist ebenfalls schwer zu entscheiden. Wir geben uns mit schlichten Umfragen zufrieden. Neulich kursierte der Befund: vier Fünftel der Befragten einer Bertelsmann-Studie favorisierten eine Art Schlussstrich. Gemeint war wohl die Beschäftigung mit Auschwitz - dem zur Metapher verdichteten Stichwort der bundesdeutschen Not mit der deutschen Vergangenheit. Wie sollen wir darunter einen Schlussstrich ziehen? Schon eine solche Frage (wie abgewandelt auch immer) in einer Umfrage zu stellen, ist absurd: so lässt sich der innere, eigene, private Umgang mit der nationalsozialistischen Hypothek, vermittelt (wie auch immer) in Millionen bundesdeutschen Familien, nicht erfassen.

Nationalsozialistischer Antisemitismus war ein (wie weit auch immer geteilter) projektiver Hass mit eliminatorischen Fantasien und einer eliminatorischen Praxis im Kontext einer grandiosen Fantasie von willkürlicher Herrschaft und Macht. Was wird davon bei uns in welchem Ausmaß gewünscht und geteilt? Das herauszufinden - ob und inwieweit der nationalsozialistische Antisemitismus (individuell) virulent und handlungsbereit ist, ob und inwieweit die in ihrem Gefühl von Grandiosität gekränkten  Herren (oder deren indoktrinierte Nachkommen) weiter wüten oder (wir haben es mit einem Spektrum zu tun) ist der als drohend kommunizierte Antisemitismus die gängige Rationalisierung des eigenen, aktuellen Hasses, der auf dem Sprung ist, seine Objekte zu finden, um gewalttätig sein zu können    -    ist wirklich unsere Lebensfrage. Man müsste sie gründlich in langen, vielstündigen Interviews explorieren. Man müsste den Alltag mit seinen kontaminierten, symbolischen oder realisierten gewalttätigen Interaktionen systematisch beobachten und auswerten. Ich bin überzeugt,, dass wir uns vor den Befunden dieser Forschung nicht fürchten müssen. Wir könnten aufatmen. Wir könnten cool reagieren. Wir würden endlich verstehen - was in den U.S.A. begonnen wurde - , wie sehr Antisemitismus oder Rassismus alarmierend, bedrohend und kränkend auf die wirkt, die damit angegangen werden. Wir könnten die schützen, die damit behelligt werden. Ein gereinigtes Vokabular  zu benutzen reicht noch nicht. Mit der noblen Vokabel Holocaust, die uns zu benutzen nicht zusteht, weil wir uns mit ihr auf die Seite der Ermordeten platzieren und über die mörderische nationalsozialistische Orgie hinwegsprechen, wiegen wir uns im Gefühl eines äußerst brüchigen Einverständnisses.

Zum letzten Punkt des Entsetzens von Karin Steinberger: hier wieder. Wir erleben, das ist vielleicht - vielleicht (auch das müsste man gründlich untersuchen) - eine nachteilige Wirkung des Internets,  in einer Zeit schneller Aussagen, schneller Erklärungen und schneller Verachtung - die  ins Kröpfchen gehören ist blitzartig ausgemacht (Türken mit dem falschen Glauben, Hartz IV, Flüchtlinge, Asylbewerber, so genannte Pädophile): zur Selbst-Vergewisserung derer, die sich im Töpfchen wähnen. Konventionen des Takts lockern sich in den riesigen Foren des world wide web; die ersten (kruden) Einfälle, die wir uns normalerweise (zum Glück) nicht mitteilen, weil wir sie kontrollieren und unterdrücken, werden dort hier und da (ich übersehe das nicht) ausgesprochen und mit einem Einverständnis herumgereicht. Psychotherapie lebt davon, dass die ersten Einfälle - als die Zugänge zum Konfliktuösen und Unterdrückten - ausgesprochen und geklärt werden. Aber Psychotherapie findet in einem klar begrenzten, intimen Rahmen statt: die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen. Das ist heute das Problem. Mit anderen Worten: die Teilnahme im Internet muss sich noch zivilisieren. Das wird seine Zeit brauchen. Auch dort sollte das Prinzip des Takts gelten. Ob man die künstlerisch legitimierte Taktlosigkeit - Beispiel: Satire -  mit dem Institut der Pressefreiheit verbinden sollte, ist fraglich. Die Freiheit der Kunst lässt sich dort realisieren, wo es ein (einigermaßen, überwiegendes) gegenseitiges, geteiltes Einverständnis über eine begrenzte Form der Aufhebung des Takts gibt. Sie gewissermaßen als  institutionalisierte Regel einer Pressefreiheit zu behaupten, ist angesichts der unklaren Grenzen der  Internet-Foren und der unklaren Grenzen der psychosozialen Gefüge in vielen Gesellschaften naiv, weil damit das Problem der Grenzen (taktvoller, erträglicher Interaktionen) unterschätzt wird. Je vielfältiger die Gesellschaften und je poröser die Grenzen der Interaktionsformen, um so wichtiger ist die Aufrechterhaltung des Gefühls von Fairness und Takt.

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