Montag, 8. Februar 2016

Ausgeschlossenwerden beim Zeitungslesen

Autoren imaginieren ihren idealen Leser - sagte Umberto Eco. Wer ist das? Wahrscheinlich wird doch eine Leserin oder ein Leser imaginiert, die oder der vom Autor nicht so weit entfernt ist. Wie ist das bei einer Tageszeitung? Bekanntermaßen wirbt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (seit einiger Zeit wieder verstärkt) mit dem selbst-vergewissernden Satz: Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.

Wie klug soll der Kopf sein? Ziemlich. Mehrere abgeschlossene akademische Studiengänge wären nicht schlecht. Der Werbesatz der Zeitung sagt, was die Redaktion erwartet - wenn wir den Satz einmal wörtlich nehmen. Aber macht die Zeitung auch einen klüger? Das ist die Frage.

Zwei Beispiele aus der Frühstückslektüre.

1. Im Wirtschafts-Teil der  Frankfurter Allgemeine Zeitung. Heute der Titel des Textes: "EBZ veröffentlicht geheimes Anfa-Abkommen. Die Verteilung der umstrittenen Wertpapierkäufe bleibt aber weiter unklar" (S. 8.2.2015, S. 17, Nr. 32). Anfa, wird erläutert, ist das Akronym aus: "Agreement on net financial assets". Die Übereinkunft, sagt der nachfolgende Satz, "regelt, in welchem Umfang die nationalen Notenbanken der Eurozone auf eigene Rechnung Wertpapiere kaufen können, für die sie im Gegenzug neu geschaffenes Geld ausgeben". Mehr wird nicht erläutert. Als volkswirtschaftlich unbedarfter Leser komme ich ins Grübeln. Wertpapiere? Welche? Wie? Und wie wurde im Gegenzug neues Geld geschaffen? Ich kaufe und habe dann mehr Geld? Was sind denn: net financial assets? Ich könnte im Internet anfangen zu buddeln. Oder jemanden anrufen, der sich auskennt. Zeitbedarf: mehrere Stunden. Wieso kann die Autorin oder der Autor dieses Textes das nicht erläutern? Die Geld-Politik und die (theoretische) Konzeption? Ist das so schwer? Keine Zeit oder keine Kompetenz zum Übersetzen? Zumindest könnte man doch ein paar Text-Tupfer erwarten, die einem die Suche erleichtern.

2. Hanno Beck und Alois Prinz, Hochschullehrer in Pforzheim und Münster, sind die Autoren des Textes "Nichts ersetzt eine gute Theorie. Wie verlässlich sind überhaupt empirische Studien? Überprüfungen zeigen, dass beim Nachrechnen oft etwas anderes herauskommt. Die empirischen Ökonomen brauchen mehr Kontrollen". Kontrollen, das wissen wir, sind immer gut. Aber wie soll ich am Frühstückstisch nachrechnen? Wer stellt mir die Daten so schnell zur Verfügung und hilft mir bei den statistischen Prüfverfahren? Das tun die Autoren natürlich nicht. Sie schreiben über das Gewurstel mit den statistischen Prüfverfahren, die sie mit einer Methode verwechseln. Statistische Verfahren prüfen im Normalfall (ordentlichen wissenschaftlichen Vorgehens) theoretisch fundierte Hypothesen; sie stellen Regelmäßigkeiten fest, die die Wahrscheinlichkeit einer Realitätsvermutung nahe legen; sie erklären sie nicht. Entscheidend ist die Theorie, mit der sich entscheiden lässt, wie relevant die signifikanten statistischen Regelmäßigkeiten sind. Häufig werden statistische Verfahren dazu eingesetzt, Hypothesen zu entdecken - was dann dem bekannten Stochern im Heuheufen entspricht: was man findet, kann man nicht abschätzen. Hanno Beck und Alois Prinz empfehlen: "Um zu vermeiden, dass sich fragwürdige Thesen festsetzen, müssten publizierte Studien viel mehr 'nachgerechnet' (repliziert) werden".

Nein. Nachrechnen ist eine ungenaue Empfehlung. Es geht um ein (theoretisch) begründetes Vorgehen. Nicht um ein wildes (Theorie-loses) Rechnen mit statistischen Verfahren. Das Vorgehen (die Methode) muß zuerst geprüft werden; gerechnet wird später.  Was ist mit dem Frühstücksleser? Er braucht einen Journalisten, der sich eine Studie vornimmt und sich die Anlage, die Fragestellung, die theoretische Ableitung, die Erfassungsinstrumente und die Prüfverfahren vornimmt und bewertet und somit die (vermuteten) klugen Köpfe hinter der Zeitung in den Stand versetzt, sich schlau zu machen oder schlau zu werden. Wieso werden die klugen Köpfe nicht klüger gemacht?

(Überarbeitung: 9.2.2016)

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