Montag, 22. Februar 2016

Journalismus-Lektüre XI: Einübung in die Selbst-Überschätzung

"Ist es späte Einsicht, Verzweiflung oder taktisches Kalkül, die den französischen Präsidenten Francois Hollande zu seinem mutigsten arbeitspolitischen Vorschlag seiner Amtszeit treiben?", lese ich am Samstag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (vom 20.2.2016, S. 19). Die Konjunktion oder verlangt den Singular des Verbums. Mit dem Plural gibt Sven Astheimer, der Autor, die Antwort: es sind alle drei vermuteten Motive, die den französischen Präsidenten treiben. Davon abgesehen: klingt die Motiv-Suche des Journalisten großspurig - Politik wird auf schlichtes Niveau gebracht; ihre Substanz und ihre Implikationen nicht geprüft. Die Arbeitszeit von 35 Stunden zu verändern ist ein tiefer  Eingriff in die französische Kultur und in das Verständnis von Lebensformen. Wie kann man sie verändern? Sicherlich nicht, indem man sich treiben lässt. Zudem fördert die Motiv-Suche die Illusion: man würde die politische Prozesse übersehen - und könnte deren Protagonisten in die sprichwörtliche Tasche stecken. Kann man nicht. Wir, das Publikum der veröffentlichen Lektüre politischer Prozesse, leben von den mehr oder weniger  plausibel wirkenden Vermutungen der Leute, die Leute kennen, die Beobachter waren oder sind. Sven Astheimer, vermute ich,  hat so wenig täglichen, intimen Kontakt mit dem französischen Präsidenten wie ich. Die Verzweiflung eines Menschen bekommt man, wenn überhaupt, nur aus der Nähe einer Beziehung mit.    


(Überarbeitung: 23.2.2016)

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