Donnerstag, 18. Dezember 2014

Bundesdeutsche Kontinuität: der Unmut über die Kultur der Beschämung und über den Zwang zur Identifikation

Pegida spricht sich herum. Pegida ist das Akronym für: "Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes". Pegida tritt montags in Dresden und anschließend in den elektronischen und in den Printmedien auf. Manchen wird das zu viel. "Pegida ist eine Schande für Deutschland", sagte der Bundesjustizminister Heiko Maas in seinem Interview mit der SZ (15.12.2014, S. 1 und S.5; Nr. 288), "die Argumente von Pegida sind doch wirklich hanebüchen". Er hatte vergessen, dass der Artikel 5 unseres Grundgesetzes keine Aussagen zur Qualität von Meinungsaussagen für die Voraussetzung von Meinungsaussagen macht. Gestern druckte die SZ auf der oberen Hälfte ihrer Seite Drei (17.12.2014) ein gestochen scharfes (für Zeitungs-Verhältnisse) Foto der riesigen Gruppe, die im Bild-Hintergrund verschwand und im Vordergrund das Transparent hielt: "Gewaltfrei und vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden! PEGIDA". Der Text von Cornelius Pollmer hatte den Titel und Untertitel: "Abend im Land. Islamhasser? Rassisten? Nazis in Nadelstreifen? Allein schon die eher hilflosen Reaktionen auf Pegida zeigen, wie schwer es ist, dieses Phänomen zu deuten. Über die Anziehungskraft von Angst, Wut und Übermut". Am 7. 12. hatte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung getitelt: "Die neue Wut aus dem Osten". Autor: Stefan Locke. Untertitel: "Die Bewegung nennt sich Pegida, sie wehrt sich gegen die 'Islamisierung des Abendlandes'. Jede Woche demonstrieren Tausende. Und es werden jedes Mal mehr".

Was kommt auf uns zu? Nichts Neues aus Waldhagen möchte ich mit dem (paraphrasierten Titel) einer Schulfunk-Sendung (des WDR aus den 50er Jahren) antworten. Die neue Wut aus dem Osten ist auch eine alte Wut aus dem Westen. Wir hatten sie vor ein paar Jahren mit der Publikation des Sarrazin-Buches (s. meinen Blog Was sollen bloß die Leute denken? vom 17.10.2010) und wir hatten sie 1998, als Martin Walser in seiner unfriedlichen Rede zum Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche von unserer Schande sprach und damit auf projektive Weise über die Unerträglichkeit unserer Geschichte klagte. Die Schande ist das Stichwort: das Gefühl permanenter Beschämung als der affektive Kern bundesdeutscher Identität und als das Resultat der (identifikatorischen und introjektiven) Aufnahme und Übernahme des institutionellen demokratischen Rahmens vor allem angelsächsischen Zuschnitts. Die Beschämung ist der affektive Kern der Anstrengung, die mörderische Katastrophe des Nationalsozialismus in die bundesdeutsche Identität zu integrieren. Die Beschämung verdrängte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Klärung der Schuld und der Verantwortung. Man kann es an zwei Buch-Publikationen illustrieren: 1966 erschien Karl Jaspers Arbeit Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1967 die Arbeit von Margarete und Alexander Mitscherlich Die Unfähigkeit zu trauern. Die Arbeit des Psychoanalytiker-Ehepaares wurde als eine Art kollektiver Selbst-Vorwurf rezipiert und missverstanden; die Unfähigkeit zu trauern stellte vor allem die Frage, was aus der Idolisierung des nationalsozialistischen Staatschefs geworden war. Diese Frage ist bis heute nicht angemessen beantwortet worden, weil die Erörterung nationalsozialistischer Sympathien sofort tabuisiert wurde und deshalb keinen ausreichenden Platz erhielt im öffentlichen Diskurs. Das war offenbar - verständlicherweise - zu schwierig. Tabus haben Folgekosten. Karl Jaspers Frage nach der Schuld verhallte. Die unzureichende Klärung der Grade von Schuld wurde zu Westdeutschlands Hypothek.

Die Empfindlichkeit für die Schande blieb - weshalb regelmäßig der Schlussstrich gefordert wurde. Das war natürlich naiv. Unsere Vergangenheit blieb und bleibt gegenwärtig. Ebenso gegenwärtig blieb und bleibt der Impuls, sich nicht dem Konsensus der Beschämung fügen zu müssen in einer bundesdeutschen Identität. Jetzt kehrt er wieder im projektiven Gewand einer Art kultureller Sorge, in der sich der Wunsch verdichtet, sich nicht verbiegen zu müssen im Prozess der demokratischen Evolution unserer Lebensverhältnisse. Pegida sagt -  so übersetze ich die sprachlose Demonstration der Teilnehmerinnen und Teilnehmer - : Wir haben einen dicken Hals; der demokratische Prozess geht zu weit; so schnell möchten wir uns nicht verändern und uns durch fremde Kulturen bestimmen zu lassen.

Was ist mit Pegida?  Pegida repräsentiert das Problem der Verständigung über das Gefühl der Beschämung und das Problem der Schwierigkeit, darüber ins Gespräch zu kommen. Man kann es auch anders sagen: wir haben die vertraute Frage vor uns, ob wir unsere Identität als deutsch oder bundesdeutsch verstehen und leben wollen. Diese Widersprüchlichkeit ist so alt wie die Bundesrepublik. Sie kehrt in dem Satz des Bundesjustizministers von der Schande für Deutschland wieder - mit dem er ironischerweise die meinte, die sich eher als deutsch verstehen. Die Auseinandersetzung um die bundesdeutsche Identität  ist noch jung. Der Prozess, wie wir unsere Demokratie wachsen lassen und gleichzeitig unsere nationalsozialistische Geschichte integrieren können, läuft.
(Letzte Überarbeitung: 21.12.2014)

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