Freitag, 10. Oktober 2014

Akademische Publikumsbeschimpfung

"Das Erste, was ich von meinen Studenten im April des Jahres 2000 sah, waren diese großen Wasserflaschen aus Plastik. Während einer Doppelstunde Regierungslehre schafften viele locker einen Liter", beginnt Christiane Florin ihren Klage-Text Warum unsere Studenten so angepasst sind. Das Erste, was sie von ihren Studentinnen und Studenten wahrnahm, waren sicherlich nicht die Wasserflaschen, sondern war ihr irriterter Gesamteindruck, den sie nicht beschreibt, sondern mit der Metapher des großen Dursts andeutet - die Dozentin konnte ihre Zuhörerschaft schlecht ausrechnen und fühlte sich offenbar in der asymmetrischen Beziehung des Lehrens unwohl. Klagen sind  Anklagen, lautet eine psychoanalytische Faustregel. Auf achtzig Druckseiten macht Christiane Florin eine Reihe von Vorwürfen: ihre Studenten sind halbherzig bei der Sache, ihnen fehlt die Leidenschaft für die Disziplin der Politikwissenschaft; für die renommierten Autoren wie Adorno, Enzensberger oder Weber können sie sich nicht begeistern; sie tun, was man ihnen sagt, und lesen nur soweit, wie aufgegeben; sie fragen nicht nach und widersprechen nicht; Diskussionen um die Sache entstehen nicht; sie haben zuerst sich im Blick und dann ihr Fach; sie sind - zu nett. Zu cool, zu sehr mit ihrem Fortschritt, aber nicht mit der Substanz ihres Studiums beschäftigt.

Christiane Florin ist enttäuscht und ernüchtert; ihr Text ist ein Dokument des Unverständnisses; die Studenten sind ihr fremd. Sie sind anders. Die Klage über die jungen Leute ist uralt. Das weiß natürlich auch Christiane Florin. Sie weiß auch, dass sie ihnen die Last unserer Moderne aufbürdet. Hier und da ist sie mit ihrer didaktischen Form selbstkritisch. "Die Studenten, über die ich hier so pauschal geschrieben habe, werden es wahrscheinlich weit bringen", lautet ihr vorletzter Satz. Ihr letzter: "Und: Meine Altersklasse ist bisher den Beweis schuldig geblieben, dass sie Bundeskanzler nicht nur aufzählen kann, sondern auch einen hervorbringt" (S. 80).

Peter Handkes Stück Publikumsbeschimpfung kam 1966 auf die Bühne; ich sah es ein paar Jahre später in einer Fernseh-Inszenierung. Damals dachte ich: das Stück funktioniert nur, wenn man nicht widerspricht. Heute widerspreche ich als Vater, der sich wundert. 1. Die asymmetrische Beziehungswirklichkeit in einer Vorlesung oder einem Seminar berücksichtigt Christiane Florin unzureichend. 2. Die hohen Erwartungen der Dozentin behindern; es ist ganz natürlich, dass die eigenen Idealisierungen nicht geteilt werden. Die jungen Leute - wie ich damals auch - wollen für ein Fach gewonnen werden. Das gelang Christiane Florin, wie sie schreibt; allerdings behagte ihr nicht, in die Nähe des show-Geschäfts zu geraten. Wie vermittelt man die Grundlagen eines Faches? Einer Wissenschaft? Wissenschaft ist kompliziert und macht viel Arbeit - um Karl Valentin zu paraphrasieren. Wahrscheinlich braucht die Vermittlung viel Zeit - mehr als heute eingeräumt wird. Crash-Kurse benötigen viel Personal. Dafür können die Studenten nichts. 3. Verständnis-Versuche wären nicht schlecht; wahrscheinlich ist es heutzutage klug, seine Kräfte sorgsam einzuteilen. Früher war das Abitur die Klippe; danach fing - ohne Numerus Clausus - das Leben an. Heute beginnt es offenbar erst nach den akademischen Examina. 4. Man ist gut beraten, wenn man - wie den eigenen Kindern - der jungen Generation zutraut, unsere Welt vernünftig in Gang halten zu können; sie muss und sie wird es anders tun. Man ist gut beraten, wenn man den eigenen Weg nicht zum  Standard macht. Man ist gut beraten, wenn man beim Älterwerden nicht zu sehr den (langsam) zunehmenden Verlust an Zukunft beklagt.

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