Montag, 13. Oktober 2014

Big Neuro

Wie das Gehirn die Seele macht heißt das neue Buch von Gerhard Roth, der es zusammen mit Nicole Strüber geschrieben hat. Der Titel gibt die Reihenfolge und die Kausalität vor: erst das Gehirn, dann die Seele.  Auf Seite 18 (ihrer Einleitung) schreiben sie: "Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt". Geht es auch anders herum? Erst die Seele, dann das Gehirn? Auf Seite 15 schreiben sie: "Gefühle können unseren Körper ergreifen". Ihre Beispiele sind: Freude, Furcht, Angst, Stress. Nein, es geht nicht anders herum. Die Autoren bewegen sich in einem Reiz-Reaktions-Schema. Rezeptoren wählen aus, reagieren auf unsere Umwelten und organisieren die wahrgenommenen Reize, wodurch die chemisch-elektrischen, neuronalen Prozesse in Gang gesetzt werden. Erst das Gehirn, dann die Seele. Wir sind zweigeteilte Wesen: der eine kommandiert, der andere folgt.

Die Behauptung der Abfolge ist die Folge der experimentellen Methode. Wer in der Röntgen-Röhre liegt, ist auf die Anweisungen des Experimentators angewiesen, der ihm zuruft, woran er denken soll. So erweist sich die experimentelle Anordnung als theoretische Entscheidung. Die Idee der Abfolge dient auch der Etablierung der Macht-Position. Das (vermeintliche) Nacheinander und Auseinander - erst der Körper und dann der Geist oder die Seele - bestimmen die Sitzordnung: in der ersten Reihe sitzen die Naturwissenschaftler, in der zweiten Reihe lassen sie die Geisteswissenschaftler Platz nehmen. Gerhard Roth und Nicole Strüber führen einen Rechtfertigungskampf. "Zwar werden die meisten Neurobiologen zugeben", räumen sie ein, "dass sie psychische Erkrankungen noch nicht (die kursive Schreibweise ist ihre Betonung) in allen ihren Details neurobiologisch erklären können. Aber was ist in vielleicht 20 Jahren? Können wir dann das diagnostische Gespräch des Therapeuten nicht doch durch eine gründliche Untersuchung des Patientengehirns ersetzen?" (S. 18). Ersetzen. Das ist die Katze aus dem Sack. Ersetzt werden sollen die menschliche Beziehungen. Beziehungen kann man  nicht mit einem Röntgen-Gerät untersuchen. Sie sind ein unsichtbares Geschehen. Gerhard Roth und Nicole Strüber haben das Beziehungs-lose Individuum vor Augen. Sie bewegen sich in einem Nirgendwo. Inzwischen sind wir im 21.Jahrhundert und interessiert an der Komplexität von Beziehungsprozessen in unterschiedlichen Einheiten, Gefügen und Organisationen. Familiäre Sozialisationsprozesse, psychosoziale, gesellschaftliche und politische Prozesse lassen sich ebenfalls nicht in die Röntgen-Röhre schieben. Neurowissenschaftliche Untersuchungen sind Forschung zu unserer Grundausstattung. Wenn sie wie in der Arbeit von Gerhard Roth und Nicole Strüber als Versprechen Beziehungs-loser Eingriffe in die individuellen, neurologisch verstandenen Regulationen dienen, überziehen sie ihr wissenschaftlich begründbares Konto mächtig. Big Data und die mit ihnen verbundenen Industrien und Organisationen in Sachen weitreichender Kontrolle und weitreichendem Konsum beunruhigen uns enorm; Big Neuro und die mit ihnen verbundenen Industrien und Organisationen in Sachen weitreichender Infantilisierung und Reduktion menschlicher Komplexität offenbar wenig.

Überarbeitung: 19.3.2015.

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