Mittwoch, 1. Oktober 2014

Zu einem Muster wissenschaftsjournalistischer Berichterstattung

Heute, am 1.10.2014, berichtet Christian Weber in der SZ (Abteilung Wissen; S. 16) über die Forschungsarbeit von Jule Specht (Berlin), Maike Luhmann (Köln) und Christian Geier (Logan, Utah). Sie hatten an zwei großen Datensätzen, die eine Stichprobe von mehr als 23.000 Befragten ergaben, so Christian Weber, die Frage der Persönlichkeitsveränderung  verfolgt. Fazit: Menschen verändern sich über ihre gesamte Lebensspanne. Christian Weber zitiert Jule Specht: "Es gab bislang bloß zu wenige Studien, die bis ins hohe Alter reichen; wenn man auch diese Gruppe betrachtet (die über 70-Jährigen), stellt man fest, dass die Veränderungen wieder größer werden - das ist die Neuigkeit".

Christian Webers Text bewegt sich in drei Texten: 1. Es gibt etwas Neues; 2. Sigmund Freud hatte Unrecht; 3. objektive Forschung ist statistische Forschung. Dazu lässt sich Folgendes sagen: 1. das Neue ist nicht neu; 2. Sigmund Freud hatte nicht Unrecht; 3. objektive Forschung ist Hypothesen-geleitete Forschung.

Zu 1. Zwei Gegenbeispiele. Erik Homburger Erikson veröffentlichte 1959 seine Arbeit Identität und Lebenszyklus. Im letzten Lebenszyklus, so Erikson, wird die Lebensbilanz gezogen; die Lebensbilanz entscheidet über die Einstellung zum Sterben und zum Tod; die letzte Lebensphase ist die schwierigste Lebensaufgabe - buchstäblich. Max Frisch, der kluge Beobachter des Alterns, registrierte in seinem 1972 erschienenen Tagebuch 1966 - 1971 das eigene Schmelzen des Vorrats an Zukunft. Zu 2. Christian Weber schreibt: "Die von Sigmund Freud inspirierte Vermutung, wonach die Erfahrungen der allerersten Jahre das ganze Leben überschatten, gilt ohnehin seit Langem als überholt". Donald Woods Winnicott, Pädiater und Psychoanalytiker, bilanzierte seine pädiatrische Praxis: dass von den ungefähr 25.000 Kindern, die er gesehen hatte, die meisten mit einem ausreichend guten Entwicklungsprozess ins Leben gestartet waren. Sigmund Freud machte die Geschichte seelischer Entwicklung zum methodischen wie theoretischen Grundprinzip; man muss ihm zugute halten, dass er zuerst die Anfänge einer Lebensgeschichte fokussierte und das fortgeschrittene Alter spät in den Blick nahm. Seine Einschätzung, dass eine Psychotherapie in der zweiten Lebenshälfte wenig aussichtsreich sei, gilt nicht mehr; inzwischen ist Psychotherapie für hohes Alter möglich und belegt damit die Plastizität unserer Lernfähigkeit. Zu 3. Korrelationsstudien sind dann sinnvoll, wenn sie Hypothesen testen; häufig ähneln sie dem Stochern im Heuhaufen und überlassen es den statistischen Verfahren, Zusammenhänge zu beschreiben, deren Auslegung spekulativ bleibt. Zu den statistischen Verfahren der Studie sagt Christian Weber wenig.

Für Christian Webers wissenschaftsjournalistischen Text lässt sich konstatieren: der Autor unternahm keine Einordnung der referierten Forschung in den Kontext der relevanten Forschung; er spielte quantitative gegen qualitative Forschung aus; das der Studie zugrunde gelegte Konzept von Persönlichkeitsveränderungen kritisierte er nicht; er monierte die Rückständigkeit psychoanalytischer Forschung, die, wie das gängige Ressentiment lautet, Sigmund Freuds Konzeptionen nicht weiter entwickelt hat.

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